Das gesichtlose Böse in politisch motivierten Liedern der Band Kraftklub
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Die deutschsprachige Rockband Kraftklub ist per se keine rein politisch agierende Gruppierung. Die Anzahl ihrer Lieder, die einen aktuell-politischen Zusammenhang aufweisen, sind auf ein paar wenige begrenzt. Umso überraschender ist es allerdings, dass es vor allem diese Songs immer wieder in die Schlagzeilen der Presse schaffen und Kraftklub dabei auf einem politischen Spektrum verortet werden, auf welches sie sich selbst bewusst nicht platzieren möchten.
Die folgende Abhandlung beschäftigt sich mit zwei dieser gesellschaftskritischen, politisch motivierten Songs sowohl auf textueller als auch auf visueller Ebene und diskutiert dabei jene Menschen, welche die Formation anklagen, kritisieren und vorführen möchte, was sich vor allem durch Gesichts- bzw. Figurlosigkeit auszeichnet.
1. Kraftklub
Die Chemnitzer Formation Kraftklub existiert bereits seit dem Jahre 2010. Ihre Musik, eine Mischung aus Rock und deutschem Sprechgesang, ist thematisch vielseitig aufgestellt. Einerseits sind die Texte lebensbejahend, fröhlich und popkulturell, andererseits greifen sie aktuelle, auch politische Themen auf. Dazu zählen beispielsweise Songs, in denen der Kapitalismus und die damit verbundene Arbeitslast beschrieben und kritisiert wird, außerdem, und das sind jene Lieder, die für diese Abhandlung relevant sind, politische Missstände, insbesondere das Überschwenken der breiten Masse in eine rechts-populistische, apathische oder wütende Richtung.
Bei KritikerInnen stößt die Band fast durchwegs auf breiten Anklang. So gelinge es ihnen laut Münger, « die Großstadtmelancholie der Jugend aufzugreifen 1 », diese in « relevante Inhalte » zu verpacken und lebensnahe Texte zu präsentieren 2. Als « Sprachrohr einer gesamten Generation 3 » gelten sie, die ihre steilen Thesen in kraftvolle Musik verpacken vermögen 4.
Für die Fans der Formation ist Kraftklub ein Inbegriff für linksgesinnte – bei aller nötigen Distanzierung der vielfach schon veralteten Denkweise in strikt rechts-links –, antikapitalistische und antifaschistische Musik. Die Mitglieder der Band stellen sich regelmäßig auf Konzerten ‘gegen rechts’ auf die Bühne und platzieren sich, obgleich sie sich zu Anfang ihrer Karriere nur ungern in Kategorien eingliedern lassen wollten, heute ganz bewusst gegen die AfD, gegen Rassismus, gegen politische Umbrüche in eine rechtspopulistische Richtung 5.
2. Analyse
Für die Abhandlung sind, wie schon erwähnt, jene Lieder von Interesse, die sich mit dem Rechtsruck und der für Kraftklub damit einhergehenden Apathie auf der einen und dem Wutbürgertum auf der anderen Seite beschäftigen. Zum einen steht Schüsse in die Luft aus dem zweiten Album aus dem Jahre 2014 im Fokus, zum anderen Fenster, eine Singleauskopplung aus dem aktuellen Album der Band aus dem Jahre 2017. Die Fragen, die sich hier stellen werden, beziehen sich auf die Funktion des Antagonisten, des Counterparts in diesen beiden Liedern Kraftklubs.
Dabei stehen folgende Fragen im Fokus :
- Wie wird ‘der Böse’ bei Kraftklub dargestellt ?
- Inwiefern kann man dabei von einer ‘Figurlosigkeit’ sprechen ?
- Welche Funktionen erfüllt das ‘Nicht-Zeigen’ und die Figurlosigkeit bei Kraftklub ?
Mit dem Begriff des ‘Bösen’ beziehe ich mich dabei auf jene Auffassung, die Kutschke in ihrem Werk zu « Imagines böser Musik » erläutert 6. Dabei geht es nicht darum, das allgemeingültige Böse zu identifizieren, sondern vielmehr darum, das Böse in Kontrast zu dem jeweiligen, von Kraftklub bevorzugten soziokulturellen Wertesystem zu verstehen. Das Wertesystem, das Kraftklub internalisiert zu haben scheinen, unterscheidet sich also maßgeblich von den in ihren Liedern besungenen ‘Feindbildern’. Vor einer einfachen Einteilung in politische Spektren verschließen sich Kraftklub zwar, die ‘Bösen’ in ihren Liedern sind allerdings sehr häufig dem rechten Spektrum zuzuordnen. Kraftklubs Wertesystem speist sich offenbar aus Verantwortung, Empathie und einem gewissen Maß an gesundem Menschenverstand, welchen sie den Besungenen absprechen. Diese ist dann eben mit rechtem Gedankengut für Kraftklub unvereinbar. Der Wutbürger, der Patriot, der Faschist sind für die Band offenbar eine Art Gegenstück, da sie aus frustrierten, unüberlegten Gedanken heraus agieren und damit durchaus ein Stück weit ein Gefahrenpotenzial darstellen. Das Böse entsteht hier also aus einer Frustration heraus und ist damit weder eine Krankheit noch etwas Angeborenes. Ich beziehe mich demzufolge auf eine soziologische Definition des ‘Bösen’, die aufgrund zivilisatorischer Nebenbedingungen entsteht und mit vielfältigen Formen von Gewalt endet, wie Selbstmord oder Mord. Diese soziale Anomie speist sich zudem aus Feindbildern wie Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit, die einem gewissen Automatismus ausgesetzt sind, den diese Gruppe von Menschen nicht länger kontrollieren kann. Es geht diesen Menschen vor allem um Herrschaft und Macht und um Konkurrenz, schlussendlich also um so etwas wie Überleben, wodurch auf verschiedene Formen des Bösen verwiesen werden kann 7 und wie in diesem Beitrag gezeigt wird, auch verwiesen wird, und zwar auf jene Formen, für die laut Kraftklub ein Korrektur- oder Verbesserungsbedarf besteht, wie ein Amokläufer, ein gewaltsamer oder apathischer Mob, ein Neo-Nazi etc.
2.1. Schüsse in die Luft
Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wenden wir uns zunächst dem Lied auf dem zweiten Album der Band zu, nämlich Schüsse in die Luft. Das Lied entstand 2014 als Reaktion auf politische Umbrüche in ihrer Heimatstadt Chemnitz, aber auch im gesamten europäischen Raum, deren Auswirkungen im sozialen Bereich spürbar wurden. Dazu zählen das Erstarken der AfD sowie der menschenunwürdige Umgang mit Asylsuchenden. Die Band weigerte sich zunächst stets, sich in ihren Liedern politisch zu positionieren, sah sich nach diesen und weiteren Vorkommnissen dazu aber quasi gezwungen. Das Lied dient für Kraftklub dazu, die Missstände in der Gesellschaft aufzudecken und die fehlende Empathie anzuklagen 8.
Schon mit der ersten Strophe wird rein textuell der Unmut des Sprechers deutlich, der sich alleine « vor einer Wand » wiederfindet, allerdings mit einem Stein bewaffnet. Er befindet sich in einem dunklen Tunnel (vgl. Abb.1), der zusätzlich zu den nicht vorhandenen Menschen auch so etwas wie einen « Nicht-Ort 10 » symbolisiert – ein Ort, den jede globalisierte Stadt kennt, der für die meisten aber ein Ort ist, den man meiden sollte. Der Krieg, dem sich der Sprecher unweigerlich ausgeliefert sieht, muss von ihm alleine bestritten werden. Schließlich sind die apathischen Bürger nicht dazu bereit, den Missständen in der Gesellschaft auf dieselbe Weise entgegenzutreten wie der Sprecher, lieber verbleiben diese auf der Couch in ihren Wohnungen. In textueller Hinsicht bleibt die Gruppe dieser Menschen insofern figurlos, da auch die für sie verwendeten Pronomen sich durch Allgemeingültigkeit auszeichnen – « da bin nur ich und sonst nichts » – sogar Indefinitpronomen. Im weiteren Verlauf bleiben diese Pronomen unbestimmt, selbst wenn sie sich dann schon auf Personen beziehen : « den verfickten Dreck, den scheinbar keiner ausser mir sieht », « aber wie auch, wenn niemand rausschaut ». Die Gruppe der Menschen, denen Kraftklub Gleichgültigkeit und ein Stück weit auch Empathielosigkeit vorwerfen, bleiben auch im Musikvideo entsprechend gesichtslos, schließlich bleibt der Sänger im Video weitgehend allein – die anderen sind immerhin zu Hause auf ihrer Couch und ihren niveaulosen scripted-reality-Fernsehsendungen.
Die Wut steigert sich rein textuell auch durch das Aufgreifen einer direkten Adressierung ab der zweiten Strophe. In überaus sarkastischer Manier wird hier dem Rezipierenden sein Fehlverhalten vorgeführt : « Du wirst nicht enttäuscht, wenn du nie etwas erwartest und bevor du etwas falsch machst, dann mach‘ mal lieber gar nichts » – erneut der in Sarkasmus verpackte Vorwurf der Nichtstuerei – hier jedoch im Vergleich zur ersten Strophe durch das bewusste Verwenden des Pronomens « du ». Unterstrichen wird die direkte Ansprache im Video durch den immer wiederkehrenden Fingerzeig des Sängers in die Kamera – hin zum « du ». Ab der zweiten Strophe bleibt der Sänger auch nicht länger alleine, allerdings drehen die Menschen dem Sänger den Rücken zu, gehen an ihm vorbei, spannen kurz vor dem Erhaschen eines Blickes auf die Gesichter ihre Regenschirme auf – spannen also ein Tuch vor sich und der ‘Wahrheit’ in Gestalt des Sängers und bleiben somit für den Rezipierenden unsichtbar – und der Sänger bleibt schließlich doch alleine.
Die beiden Frauen, die den Sänger schließlich begleiten, scheinen zunächst für seine Sache einzustehen – die drei Schüsse in die Luft werden nun durch zumindest drei Kämpfer symbolisiert –, doch selbst diese Personen bleiben gesichts- und figurlos – die schwarze Kleidung, gepaart mit fast schon bedrohlich wirkenden Sturmmasken, bedeutet selbst in diesem Zusammenhang ein Unsichtbarbleiben – fast wie Geister schwirren sie um den Sänger und verschwinden schlussendlich auch wieder.
Im Refrain wird schließlich die Wut des Sprechers durch den Schuss in die Luft deutlich. Worte alleine bewirken nichts mehr, Farin Urlaubs Forderung nach Demonstrationen auf der Straße, wie der Sänger sie zunächst auch anführt, versinkt in der schieren Einsamkeit des Protagonisten – nur Gewalt, wenngleich sie hier als Revolution aufgefasst wird, scheint ein gangbarer Weg zur Verbesserung zu sein. Der vom Sprecher initiierte Krieg muss auch von ihm alleine bewältigt werden – keiner zieht mit – lieber beschwert sich der unsichtbare Mob von ihrem Zuhause aus über den veranstalteten Krach.
Im Laufe des Liedes wird schließlich auch auf die Situation mit den Asylsuchenden aufmerksam gemacht. Insbesondere die Patrioten, die ›nichts können‹ und nichts haben, werden vorgeführt – stolz sein auf sein Land als Selbstzweck wird dabei vom Sprecher in sarkastischer Weise genannt. Die Menschen, denen der Sprecher auf dem Weg durch den düsteren Tunnel begegnet, werden hier zunächst sichtbar (vgl. Abb.2), im Vergleich zu den apathischen Nichtstuern. Die Personengruppe bleibt aber in vielerlei Hinsicht dennoch für den Rezipierenden ungreifbar – zunächst kommen sie aus jener Richtung, in die der Sprecher gerade gehen will – symbolisch überdies stark aufgeladen – die Rückwärtsgewandten, die nicht progressiv sein wollen, die wollen, dass alles so bleibt, wie es früher einmal war – sie drehen dem Rezipierenden damit aber den Rücken zu und verdecken so ihr Gesicht. Des Weiteren sind sie sich als Personen überdies sehr ähnlich – eine sofort erkennbare Gruppe von Menschen, die sich über ihr Äußeres, bzw. hier über die fehlende Spezifikation des Einzelnen, auszeichnen. Der Patriot bleibt damit als Einzelperson nicht erkennbar und in der Masse aufgrund der Gehrichtung ebenso wenig.
Ziehen wir nun ein erstes Zwischenfazit. Die Antagonisten in diesem Lied bleiben in zweierlei Hinsicht unsichtbar. Einerseits bleiben die Menschen, die lieber zu Hause auf der Couch sitzen als ihm beizustehen rein textuell nur durch Indefinitpronomen repräsentiert. Die Menschen bleiben figurlos schlicht und einfach, weil sie nicht da sind. Andererseits sind sie im Tunnel zwar körperlich anwesend, für den Rezipierenden und den Sänger aber dennoch nicht wahrnehmbar, schließlich drehen sie uns stets den Rücken zu, spannen Schirme auf oder sind ein Teil einer großen Masse und wollen dem Sänger nicht beistehen und keine Verantwortung übernehmen, womöglich wollen sie auch, wie die ‘Patrioten’, überhaupt keine Veränderung in die Richtung, die der Sänger vorschlägt.
Somit wird einerseits die Einsamkeit des Sängers deutlich, der schließlich niemanden hat, der ihm beisteht, andererseits wird auf die Apathie der Menschen verwiesen, die nicht helfen wollen und lieber faul bleiben und zu guter Letzt wird auch eine Identifikation einer ohnehin schon bedrohlich wirkenden Menge erschwert. Diese entzieht sich der Wahrnehmung durch die Abwendung vom Rezipierenden und vom Sänger und symbolisiert für Kraftklub damit eine Abwendung von einer unausweichlichen Wahrheit – einer notwendigen Revolution. Die Antagonisten bleiben somit schlussendlich auch deshalb gesichtslos, weil es die für Kraftklub notwendige « Gegen-Gewalt » erleichtert 11.
2.2. Fenster
Der zweite Song ist ähnlich, aber mit einem anderen Fokus aufgebaut. Das Lied trägt den Titel Fenster und erschien auf dem Album Keine Nacht für niemand in starker Anlehnung an den Titel des Albums Keine Macht für niemand der sozialkritischen Rockgruppe Ton Steine Scherben.
Kraftklub greift hier den Massenmedien-Topos des sich ständig beschwerenden Ostdeutschen auf 12 und führt in sarkastischer Manier den « politikfrustrierten Pegida-Anhänger und anti-elitistische Verschwörungstheoretiker 13 » an, denen ein relativ radikaler Weg zur Lösung ihrer Probleme vorgeschlagen wird : der Suizid.
In der ersten Strophe wird eine kurze Ich-Erzählung eingeleitet, in der sich über den Gang der Welt beschwert und sogar das schlechte Wetter ‘den Eliten’ untergeschoben wird. Diejenigen, die an der Wahrheit dieser Aussage Zweifel hegen, sind dann sogleich Verblendete, die auch an der manipulativen Kraft der sogenannten Chemtrails zweifeln. Sowohl die Eliten als auch die Verblendeten und Gutmenschen werden zwar besungen – fast wie Schlagwörter werden diese ja schließlich von den sogenannten Wutbürgern und auch einigen AfD-Parteimitgliedern (und -WählerInnen) immer genannt, haben allerdings sonst keine Attribuierungen verdient – vielmehr wird nun der Fokus auf diejenigen gelegt, die zwar der gleichen Meinung sind wie der Ich-Erzähler, aber nichts an ihrer Situation ändern wollen. Der Staat, damit wohl gemeint auch die Demokratie, hat offenbar ausgedient – man muss nun die Probleme alleine lösen.
Von der Strophe zum Pre-Refrain findet nun ein Perspektivenwechsel statt. Ein weiterer Erzähler fordert den unglücklichen Wutbürger auf, seinen eigenen Weg zu gehen, und dass er doch tatsächlich etwas bewirken könne, wenn er nur fest an sich glaube – er soll aus dem Fenster springen. Wie auch schon im Lied zuvor wird hier nun einerseits auf recht radikale Weise die Lösung eines Problems vorgeschlagen, der Suizid des Wutbürgers – andererseits wird auch hier erneut intertextuell auf die Rockband Die Ärzte verwiesen. Im Lied Ohne dich wird einem Neo-Nazi eben genau dieser Weg ebenso nahegelegt – die Welt wäre ohne ihn schließlich ein besserer Ort. Dem Appell, doch aus dem Fenster zu springen, wird überdies Nachschub geleistet, indem Farin Urlaub selbst zum Mikrophon greift und den Refrain zuletzt wiederholt – allerdings, und für diesen Beitrag nicht unerheblich, bleibt Farin Urlaub selbst figurlos – er tritt im Video nicht auf, man hört nur seine Stimme aus dem Off. Dadurch wird der Forderung viel mehr Bedeutung beigemessen : Nicht bloß Kraftklub, die visuell greifbar sind, fordern deinen Suizid, sondern ebenso Menschen, die man nicht sehen kann.
Auch für diesen Song ist das Musikvideo von zentraler Bedeutung, insbesondere, weil einerseits der sichtbare Antagonist und alles, was mit ihm in Verbindung steht, sich durch bemerkenswerte Alltäglichkeit auszeichnet und andererseits der wahre Täter für den Rezipierenden erneut vollkommen figurlos bleibt, weil er schlichtweg nicht in Erscheinung tritt.
Zu Beginn des Videos steht an einem nicht näher definierten Ort eine grüne, alte Limousine, die zu wackeln beginnt, weil sich der Mann im Auto vor Wut kaum noch kontrollieren kann. Im nächsten Schnitt wird das Gesicht des Mannes gezeigt– und es ist, ebenso wie sein Auto, alltäglich, wie ein Nachbar, den man schon immer kannte, den man nie wahrgenommen hat. Die harmlos unschuldige Physiognomie des Mannes ist nicht sofort erkennbar böse, wodurch es den Eindruck des Bösartigen noch verstärkt 15. Der Mann scheint allerdings nicht ganz bei Sinnen zu sein : Er spricht manisch mit sich selbst und steht offenbar kurz vor einem Ausbruch. Nach einem kurzen Blick auf ein ebenso alltägliches Foto, wohl von ihm und seiner (Ex-?)Frau, das er wütend wegwirft, richtet er den Rückspiegel auf seine Augen und beschließt offenbar auszusteigen. Was uns im Anschluss daran erwarten soll, wird durch das kurze Einspielen einer Szene klar, in der man sieht, wie der Mann grinsend mit Blut bespritzt wird und es ihm nichts auszumachen scheint oder er selbst die Gewalt ausführende Hand ist.
Der Mann steigt nun aus, schreitet entschlossen zum Kofferraum und zieht, neben der üblichen Abdeckung für die Frontscheibe und einer Decke, eine Schrotflinte aus dem Kofferraum. Spätestens jetzt ist dem Rezipierenden klar, dass es sich hier um einen Amoklauf handeln muss. Die Tatsache, dass der Mann schwer bewaffnet ist, hat jedoch nur mittelbar etwas mit antistaatlicher Rebellion zu tun, vielmehr geht es darum, sich Macht zurückzuholen und sich in den jetzigen Verhältnissen wieder durchsetzen zu können 16, die für die vielzitierten Wutbürger offenbar untragbar geworden sind.
Vor allem auch sein ‘böses Lachen’ identifiziert ihn recht rasch als den Antagonisten des Liedes – seine Boshaftigkeit mündet in einem hilflosen Lachen, das Züge geistiger Verwirrung und Anflüge von Wahnsinn durchblicken lassen, wie es für einen Amokläufer schließlich typisch ist, und das auf böse Pläne schließen lässt und uns letztendlich aufzeigt, dass die Pläne dieses Individuums das genaue Gegenteil von denen eines rechtschaffenen Bürgers sind 17.
Er geht durch leere Gassen und stürmt das erstbeste Geschäft, bereit, die Menschen dort zu ermorden, nur um dann festzustellen, dass alle (inklusive der Mitglieder der Band) bereits ermordet wurden.
Auch der Blick in umliegende Geschäfte und den Linienbus bringt bloß Ernüchterung : Alle sind bereits tot. Figurlos bleibt das Böse hier insbesondere dadurch, dass nicht klar ist, wer dafür verantwortlich ist. Würde man dem Text folgen, könnte man denken, es handle sich um Massenselbstmord. Dagegen spricht jedoch, dass manche Menschen offenbar während des Essens starben. Möglicherweise war ein anderer Amokläufer bereits da und hat alle Menschen vor diesem hier ermordet – dagegen spricht jedoch, dass Menschen offenbar vom Bus überfahren worden sind und von herabfallenden Klavieren erschlagen wurden. Wer im Endeffekt für die Taten verantwortlich ist, bleibt ungeklärt, der Böse in dem Video eine figurlose Vermutung.
Selbst die einzige noch lebende Person, eine Frau im blutroten Kleid, stirbt nach kurzer Zeit auf unerklärliche Weise. Der Mann scheint nun vollkommen allein zu sein, alle Menschen sind tot, weswegen, für einen Amokläufer ja nicht untypisch, er die Waffe nun gegen sich selbst richtet und sich erschießen will. Nur kurzzeitig wird er abgelenkt, erschießt sich aber schließlich dann doch.
Warum aber bleibt der wahre Täter figurlos ? Kann es verstanden werden als ein Sich-Entziehen unschuldiger Menschen vor der Wut-Tat eines hoffnungslos unzufriedenen Menschen, der seiner Wut nur durch die Tötung einer Vielzahl unschuldiger Menschen Ausdruck verleihen kann ? Es würde in dieser Weise wohl zum Inhalt des Liedes passen, die ja den Beitrag nur dann geleistet sehen, wenn man sich selbst tötet. Nicht die Eliten, die Verblendeten, ›die da oben‹ sind verantwortlich, sondern nur du selbst, also musst auch du selbst die Konsequenzen tragen. Der wahre Täter bleibt figurlos, weil er keine Figur annehmen kann, er fungiert als Stellvertreter für eine Gruppe von Menschen, die eine gewaltbeladene Rückholung einer Macht verhindern wollen. Der Mann, der gerne der Täter wäre, erscheint zwar in wahrnehmbarer Gestalt, wirkt aber ebenso figur- und gesichtslos, seine « alltägliche Monstrosität 18 » passt nicht zu den Figuren und Fratzen des Bösen, die sich sofort als solche zu erkennen geben, sowohl im faktualen als auch fiktionalen Bereich. Damit geht aber andererseits auch eine gewisse unterschwellige Angst einher – der Mann, der keine merkbare Figur aufweist, nicht sofort als ‘der Böse’ zu erkennen ist, kann im Grunde dann jeder sein, das Böse lauert überall, die unterschwellige Angst bleibt trotz der Vereitelung bestehen.
3. Resümee
Die Chemnitzer Formation Kraftklub setzt in ihren Liedern vielfach auch auf Gesellschaftskritik und konterkariert dabei die für sie verabscheuungswürdigen BürgerInnen. Obgleich man bei Kraftklub in gewisser Weise ambivalente Einstellungen dingfest machen könnte, stand für diesen Beitrag vor allem der Antagonist der Band im Vordergrund, der sich, vor allem bei politisch motivierten Songs durch Figurlosigkeit auf unterschiedlichen Ebenen auszeichnet. So finden wir in Schüsse in die Luft zwei verschiedene Nicht-Darstellungen : Zum einen bleiben die Bürger textuell und visuell figurlos, da sie sich lieber zu Hause vergnügen, statt dem Sänger bei der für ihn notwendigen Revolution beizustehen. Dabei verstärkt das Fehlen konkreter Pronomen und der Tunnel, in dem sich der Sänger vollkommen alleine aufhält, seinen Eindruck, alleine zu sein. Die Personen sind figurlos, weil sich der Sänger mit einem einsamen Krieg konfrontiert sieht.
Zum anderen nehmen wir dunkel gekleidete Gestalten wahr, die zwar somit nicht zu Hause sitzen, für den Rezipierenden und den Sänger aber dennoch keine Alternative darstellen. Die Personen sind rückwärtsgewandt, drehen den Rezipierenden dementsprechend den Rücken zu und verbleiben somit nicht wahrnehmbar, und damit schlussendlich figurlos. Das Zeigen und gleichzeitige Nicht-Zeigen der Personen unterstreicht zum einen die Botschaft des einsamen Krieges, trägt symbolisch zum Vorwurf der Fortschrittsfeindlichkeit und Empathilosigkeit bei und lässt damit zum anderen auch die Rezipierenden im Unklaren darüber, wie die Antagonisten nun tatsächlich aussehen – sie bleiben schlichtweg unsichtbar und damit ungreifbar.
Obgleich Fenster sich thematisch ähnlich aufstellt, ist die Darstellung bzw. Nicht-Darstellung des Counterparts hier ein Stück weit anders gelagert. Der wahre Täter bleibt vollkommen figurlos. Die Rezipierenden werden im Unklaren darüber gelassen, was sich zugetragen hat und wer dafür verantwortlich ist. Obgleich man hier von einer durchwegs ‘bösen’ Tat sprechen kann, ist der Tod der Figuren im Lied beinahe schon eine Erleichterung, da sie sich somit den Machtbestrebungen eines irren Amokläufers widersetzen.
Der Amokläufer, der gerne dafür verantwortlich gewesen wäre, ist für den Rezipierenden in seiner vollkommenen Gestalt wahrnehmbar, allerdings in seiner ‘Kleinbürgerlichkeit’ derart normal und gewöhnlich, dass man schließlich in vielen Nachbarn einen ähnlich aussehenden Mann erblicken könnte. Einerseits greift Kraftklub damit die Normalität auf, mit der das Wutbürgertum bereits behandelt wird – schließlich sind das laut ihrer Auffassung tatsächlich schon viele – andererseits wirkt die Darstellung einer derart gewöhnlichen Person wiederum unterschwellig bedrohlich, wenn es schlussendlich dann tatsächlich der Nachbar sein könnte. Die Unscheinbarkeit des Schützen impliziert eben, dass jeder Täter sein kann und steht damit im Gegensatz zu vielen Inszenierungen des Bösen, die ein hyperböses Gesicht darstellen, den man sofort als den Bösen erkennen kann 19.
Nur wenige Lieder Kraftklubs sind tatsächlich politisch oder sozialkritisch motiviert. Diesen wiederum gelingt dafür umso häufiger der Weg in die Schlagzeilen. Für Kraftklub ist der Antagonist, und weil auch Kraftklub stets auf Die Ärzte verweist, möchte ich auch mit einem Zitat aus Deine Schuld schließen : « jeder, der die Welt nicht ändern will, [denn der würde] ihr Todesurteil unterschreib[en] ».
- Pascal Münger, « Die Hoffnung der Indie-Szene », Neue Zürcher Zeitung, 21/04/2012, https://www.nzz.ch/die-hoffnung-der-indie-szene-1.16554027.
- Ibid.
- Ruth Schneeberger, « Loser aus dem Osten », Süddeutsche Zeitung, 09/02/2012, http://www.sueddeutsche.de/kultur/musik-von-kraftklub-die-loser-aus-dem-osten-1.1224147.
- Ibid.
- Caroline Bader, « Die Revolution oder Berlin – Tag & Nacht : Zeitgenössische deutschsprachige Rockmusik im Deutschunterricht », S. 145, in Johannes Odendahl (Hg.), Musik und literarisches Lernen. Innsbrucker Beiträge zur Fachdidaktik, n° 5, Innsbruck, iup, 2019, S. 145-161.
- Beate Kutschke, « Imagines ‘böser’ Musik », S. 201ff., in Katharina Wisotzki, Sara R. Falke (Hg.), Böse Macht Musik. Zur Ästhetik des Bösen in der Musik, Bielefeld, Transcript, 2012, S. 201-218
- Werner Faulstich, « Einführende Vorbemerkungen », S. 10ff., in ders. (Hg.), Das Böse heute : Formen und Funktionen, München, Wilhelm Fink, 2008, S. 9-21, hier S. 10ff.
- Caroline Bader, « Die Revolution oder Berlin - Tag & Nacht », op. cit., S. 146ff.
- Songwriter : Felix Brummer / Karl Schumann / Steffen Israel, Schüsse in die Luft, © BMG Rights Management, https://genius.com/Kraftklub-schusse-in-die-luft-lyrics.
- Gabriele Klein, Malte Friedrich, Is this real ? Die Kultur des HipHop, Frankfurt-am-Main, Suhrkamp, 2003, S. 105.
- Michael Staudigl, Gewalt und Gemeinschaft. Plädoyer für einen relationalen Gewaltbegriff, S. 28, in Donau-Universität Krems (Hg.), Gesellschaft, Staat, Gewalt. Was uns zusammenhält. Tagungsband zum 6. Symposium Dürnstein, Hamburg, tredition, 2017, S. 25-35.
- Eric Erbacher, Sina Nitzsche, « Perfoming the Double Rupture : Kraftklub, Popular Music and Post-socialist Urban Identity in Chemnitz, Germany », S. 444, in International Journal of Cultural Studies, vol. 20, n° 4, 2007, S. 437-455, https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/1367877916638730.
- Martin Seeliger, Verhandelte Globalisierung. Studien zur Internationalisierung von Wirtschaft und Kultur, Wiesbaden, Springer VS, 2019, S. 125.
- Songwriter : Karl Schumann / Felix Brummer, Fenster, © BMG Rights Management, https://genius.com/Kraftklub-fenster-lyrics.
- Knut Hickethier, « Das narrative Böse. Sinn und Funktionen medialer Konstruktionen des Bösen », S. 228, in Werner Faulstich (Hg.), Das Böse heute : Formen und Funktionen, München, Wilhelm Fink, 2008, S. 225-243.
- David Toop, « Bring the Noise – Gangster, Moslems und Politiker », S. 94, in Peter Kemper, Thomas Langhoff, Ulrich Sonnenschein (Hg.), « but i like it ». Jugendkultur und Popmusik, Stuttgart, Reclam, 1998, S. 85-98.
- Knut Hickethier, « Das narrative Böse. Sinn und Funktionen medialer Konstruktionen des Bösen », op. cit., S. 228ff.
- Joseph Vogl, « Zur Geschichte und Gefahr und Gefährlichkeit : Amok », S. 248, in Herfried Münkler, Matthias Bohlender, Sabine Meurer (Hg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, Bielefeld, Transcript, 2010, S. 239-259.
- Birgit Richard, Jan Grünwald, Marcus Recht, Nina Metz, Flickernde Jugend – rauschende Bilder. Netzkulturen im Web 2.0, Frankfurt-am-Main, Campus Verlag, 2010, S. 154.