Ein Motiv und sein Archetypus. Zur Körperlichkeit in den Jugendbüchern Tanz der Tiefseequalle und Wunder
Der Andere, die Andere bzw. das Andere, möglicherweise sogar « sehr Andere » – wie sind sie zu integrieren auf der Basis eines humanen, auf Werten der Aufklärung gründenden Gesellschaftsbildes, so dass sie zum Gewinn, zur Bereicherung aller werden können ? Dabei spielen nicht nur unterschiedliche Werte, Stärken und Interessen, Lern- und Entwicklungstempi, kultureller oder sozioökonomischer Hintergrund eine wichtige Rolle. Hier soll vielmehr der Frage nachgegangen werden, wie man damit umgeht, wenn sich das Andere durch von Gewohntem abweichende Körperlichkeit, wie z. B. durch starkes Übergewicht oder eine Behinderung, zeigt. Dass diese Frage vielfach und in zunehmendem Maße auch in der Kinder- und Jugendliteratur gestellt wird, erstaunt nicht und ist äußerst begrüßenswert. Schon die Fibeln für Leseanfänger, vielmehr aber noch die Kinderliteratur, sind immer auch ein Spiegel der Gesellschaft und beschäftigen sich – durchaus auch in künstlerisch-poetischer Weise auch mit heiklen oder schwierigen Themen, die zur Diskussion stehen. Dabei wird oft ein idealtypischer Umgang mit aktuellen Problemen aufgezeigt. Doch vieles, was gut gemeint sein mag, geht am Ziel vorbei, richtet vielleicht sogar Schaden an. Ein nicht ganz neuer Vorwurf an solche Literatur gilt vor allem deren oft allzu aufdringlicher Belehrung, « vorgetragen von Figuren, die unverkennbar Sprachrohr des Autors sind 1 ».
Dazu zählen auch zwei bekannte Beispiele in der neueren bzw. neuesten Kinder- und Jugendliteratur, nämlich die Romane Wunder von Raquel J. Palacio 2 und Tanz der Tiefseequalle von Stefanie Höfler 3. Die Handlungsverläufe der beiden Jugendbücher, jeweils für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert bzw. sogar mit ihm ausgezeichnet, lassen sich schnell zusammenfassen : in beiden Werken wird ein Junge aufgrund seines Aussehens ausgegrenzt, verfügt aber über großartige innere Werte und wird deshalb nach einigen Turbulenzen dennoch akzeptiert und findet gute Freunde. Das klingt schön, « berührend » und spendet Lesenden, die sich in ähnlichen Situationen befinden, möglicherweise Trost ; vielleicht auch deshalb, weil die jugendlichen Leser merken, dass es um sie selbst wohl nicht ganz so schlimm bestellt ist wie um die Kinder, von denen hier die Rede ist. Deren Leid nämlich ist durchaus beachtlich.
In beiden Büchern werden die Helden zunächst schonungslos in all ihrer Hässlichkeit vorgeführt : Niko, so erfährt man bereits auf der ersten Seite von Tanz der Tiefseequalle, ist viel zu dick : « Ist einfach zu viel dran an seinem Körper 4 ». Er sehe aus « wie ein junges Walross 5 », dann « weiße Haut, wie Papier 6 ». Seine Kleidung gleicht einem Zelt : « Klar, der will verstecken, was geht 7. » Das wiederum verbindet ihn mit dem anderen Protagonisten Auggie, dessen Gesicht wegen eines Gendefekts so sehr entstellt ist, dass er es am liebsten unter einem Astronautenhelm versteckt. Die Autorin lässt ihn über sich selbst sagen : « Ich werde nicht beschreiben, wie ich aussehe. Was immer ihr euch vorstellt – es ist schlimmer 8. » Doch auch hier werden keine Details ausgespart, etwa bei der Beschreibung des entstellten Gesichts, bei dem die Augen auf Höhe der Wangenknochen hängen, sowie der Tatsache, dass dem Jungen beim Essen wegen eines Lochs im Gaumen die Krümel aus dem Mund fliegen 9.
Beide werden aufgrund ihres Äußeren gemobbt ; um nur einige der schlimmsten Schimpfwörter widerzugeben, mit denen ihre Klassenkameraden sie belegen : « Rattenjunge. Missgeburt. Monster. Freddy Krueger. E.T. Ekelfresse. Eidechsengesicht. Mutant 10. » Oder eben : « Fettauge », « Tiefseequalle 11 », letzteres sogar titelgebend. Die Klassenkameraden ekeln sich, fürchten, Auggie würde « die Pest » übertragen bzw. Nikos Fett sei « ansteckend 12 ».
Aber nicht alle reagieren in dieser Weise und auch das birgt viel Trost, ja rührt viele Lesende fast zu Tränen : Auggie findet Unterstützung in der hübschen Klassenkameradin Summer, die selbstbewusst genug ist, sich gegen die Stimmungsmacher der Klasse zur Wehr zu setzen und demonstrativ auf die Seite des Schwächeren zu schlagen. Noch größeres Glück hat Niko: Ausgerechnet Sera, das bezauberndste Mädchen weit und breit, eine « morgenländische Schönheit 13 » wendet sich vom Anführer der Klasse ab und ihm zu, ja sie denkt sogar ernsthaft darüber nach, eine Liebesbeziehung mit ihm einzugehen. Wie außergewöhnlich schön sie innerlich und äußerlich ist, wird auch daran deutlich, dass sie – was für ein Mädchen in der Pubertät durchaus ungewöhnlich ist – bislang kaum über den eigenen Körper nachgedacht hat. Sie ist zweifellos eine überhöhte Figur. Erst Nikos Hässlichkeit bewegt sie dazu, sich beim Duschen einmal genauer zu betrachten :
Ich schau meinen Körper an, als würd er zu jemand anderem gehören. Und da fällt mir dann zum ersten Mal auf, dass es total normal für mich ist, dass ich absolut alles mit ihm machen kann, was mir gefällt, dass er mich noch nie gestört oder behindert hat. Und dass ich ihn mag. Ja, ich mag meinen Körper echt genau so, wie er ist 14.
Niko und Auggie, auch das wird deutlich, sind an ihrem Äußeren unschuldig. Auggie kam mit einem seltenen Gendefekt auf die Welt. Er hat bereits viel Schlimmes erlebt, allein 27 Operationen seit seiner Geburt. Auch Niko kann nichts für sein Übergewicht. Er war eigentlich ein schlanker Junge, wie sich herausstellt. Erst die desaströse Scheidung seiner Eltern führte dazu, dass er plötzlich so stark zunahm. Beide finden Unterstützung in den Lehrkräften. Während das pädagogische Personal, das Auggie zur Seite steht, in geradezu schlafwandlerischer Sicherheit stets das Richtige sagt und tut, geht die Lehrerin, die sich bemüht, Niko zu schützen, dem Heranwachsenden allerdings ziemlich auf die Nerven. Zu leicht durchschaut er deren vermeintliche Freundlichkeit als aufgesetzt und bemüht. Sarkastisch konstatiert er : « Gäbe es in meiner Klasse jemanden, mit dem ich Wetten abschließen könnte, hätte ich genau darauf gewettet, dass am Wochenende einer der Lehrer die Aufgabe übernehmen muss, sich um den fetten Außenseiter zu kümmern. Ob sie es ausgelost haben 15 ? »
Beide Werke, daran ändern auch ihre Auszeichnungen und die Tatsache nichts, dass sie in renommierten Verlagen erschienen, sind von sehr übersichtlichem Niveau, gepaart mit moralinsaurem pädagogischen Impetus. Um dies konkret vorzuführen, sei zunächst ein Blick auf Wunder geworfen und ausführlicher aus dem Höhepunkt des Buches zitiert, einer Rede, die der Schulleiter Mr. Pomann bei der Schuljahres-Abschlussfeier in der Aula vor der versammelten « Schulfamilie » hält. Er veranschaulicht seine Vorstellung von Freundlichkeit mit einer Geschichte : Einem jungen Mann, der Joseph heißt, wird von einem Mitschüler geholfen :
Es waren Momente wie diese, in denen Joseph das Antlitz Gottes in menschlicher Gestalt erkannte. Es schimmerte auf in ihrer Freundlichkeit, es glühte in ihrer Hilfsbereitschaft, es deutete sich an in ihrer Sorge, es trat liebevoll in ihren Blicken zutage. […] ich wünsche mir für euch, meine Schüler, dass das, was ihr von der Middle-School auf euren Lebensweg mitnehmen könnt, das sichere Wissen ist, dass in der Zukunft, die ihr euch selbst gestaltet, alles möglich ist. Wenn jede einzelne Person in diesem Raum es sich zur Regel machen würde, wo immer sie sich befindet, wann immer es möglich ist, zu versuchen, sich etwas freundlicher zu verhalten, als es notwendig ist – würde die Welt zu einem besseren Ort werden. Und wenn ihr das tut, wenn ihr euch etwas freundlicher verhaltet als notwendig, dann wird irgendjemand irgendwo irgendwann vielleicht in jedem Einzelnen von euch das Antlitz Gottes erkennen 16.
Auffällig ist zunächst der sprachliche Duktus : Liebedienerisch, anbiedernd wird versucht, Kinder- bzw. Jugendsprache nachzuahmen, um so das Interesse junger Lesender zu wecken. So entsteht eine Art von äußerst plattem, längst nicht mehr zeitgemäßem Naturalismus, die Grenzen zwischen Dichtung und protokollartigem Bericht verschwimmen bzw. sie werden gänzlich aufgehoben, und zwar nicht nur in der hier zitierten Passage. Wenn aber Wirklichkeit getreu abgebildet werden soll, bzw. in der Fiktion dieser Eindruck vermittelt wird, warum dichtet man dann überhaupt ? Die Literarizität muss stets als solche erkennbar sein, auch wenn es um die Vermittlung ethischer Werte geht. Sonst kann man gleich zu einem Katechismus greifen. Ein Vergleich mit der Originalausgabe zeigt, dass diese sprachlichen Unzulänglichkeiten keineswegs André Mumot verantwortet, der das Werk aus dem Englischen übersetzte. Er arbeitet in seinem Bemühen, die englische Kindersprache im Deutschen wahrnehmbar zu machen bzw. angemessene sprachliche Pendants zu finden, genau und textnah. Das heißt, ein Qualitätsverlust alleine durch die Übersetzung ist nicht feststellbar.
Mit den sprachlichen Desideraten geht der Versuch einher, fragwürdige moralische Botschaften zu vermitteln. Da tritt eine Lehrerfigur im Habitus des Intellektuellen und Weisen in Erscheinung ; nicht zuletzt das Requisit der Lesebrille verdeutlicht dies. Doch bei genauerer Betrachtung verbreitet der Schulleiter nur Allgemeinplätze, irgendwo zusammengelesen, woraus er auch keinen Hehl macht. Nicht nur, dass seine Quellen als Reservoir ethischer Maximen äußerst fragwürdig, in erster Linie « Hollywood » sind, (der von ihm zitierte Christopher Nolan ist ein sehr bekannter britisch-US-amerikanischer Drehbuchautor und Filmemacher), sie sind nichtssagend, in ihrer Pauschalität immer richtig, keineswegs zum Nachdenken anhaltend : Denn was soll es denn heißen, « freundlicher als notwendig » zu sein, mit einer Freundlichkeit, die sich nicht mit dem « Zollstock messen » lasse ? Was ist überhaupt jene Freundlichkeit, die das Buch in der Art eines Leitmotivs einfordert 17 und die, in der Diktion des zitierten Nolan, noch pseudoreligiöse Züge verliehen bekommt ?
Wenn man « Freundlichkeit », wie man der Autorin unterstellen darf, verengend als besonders sensible und humane Art im Umgang mit Ausgegrenzten definieren möchte, dann ist dagegen nichts einzuwenden. Das sollte dann jedoch deutlich gemacht werden. So allerdings wird der Begriff zur Leerstelle, zur Nullinformation. Dergleichen Sentenzen wollen in ihrer Naivität anrühren, doch sie sind in ihrer Banalität höchst dubios und allzu plakativ. Der Lehrer also doziert in seiner Attitüde über Moral und ist noch nicht einmal imstande, die Banalitäten, die er zu Handlungsmaximen erklärt, selbst zu formulieren ; nein, sie stammen u. a. von einem Regisseur, der Batmanfilme gedreht hat und hier als Paradeethiker verkauft wird.
Die Stärken dieses Lehrers mögen in seiner emotionalen Intelligenz liegen, und es gelingt ihm ja tatsächlich, seine Zuhörerschaft zu berühren. An Scharfsinn, Reflexionsfähigkeit, persönlichem Profil hingegen scheint es ihm zu mangeln. Er hat nichts Eigenes. Dass er dann tatsächlich « Pomann » heißt, ist für ihn unfreiwillig dechiffrierend und ihn entlarvend, und mit ihm die Autorin. Daran ändert auch die Tatsache nicht, dass er anfangs mit seinem Namen kokettiert, der ihn Zeit seines Lebens zu einem Stigmatisierten machte ; ähnlich wie Auggie mit seiner Behinderung, dem er sich mit dem Hinweis auf seinen Namen anbiedert : « Machen wir uns nichts vor, mit einem Namen wie dem meinen lebt es sich nicht so leicht. Du weißt, was ich meine 18 ? » Nicht also, so soll man hier lernen, nur eine abweichende Körperlichkeit grenzt aus, es können auch andere Dinge sein, auch etwas so Banales wie ein sprechender Eigenname. Auch hier schwingt wieder eine Botschaft mit, ein Trost, denn das einst wegen seines Namens verlachte Kind hat sich ja ganz offensichtlich und wider Erwarten hervorragend entwickelt, immerhin ist es nun ein Schulleiter.
Es hat beinahe den Anschein, als wollte Stefanie Höfler in ihrem erst 2017 erschienenen Roman Tanz der Tiefseequalle die vorgeführten Desiderate Palacios noch steigern. Wie diese erzählt Höfler ihre Geschichte aus verschiedenen, einander abwechselnden Perspektiven, sprachlich nähert auch sie sich dem jungen Leser durch nachgeahmten Jugendslang in anbiedernder Weise. So lässt sie einen ihrer Ich-Erzähler in der Form eines inneren Monologes eine spezifische Szene beschreiben und entfernt sich dabei von allem, was man noch als Kunst bezeichnen könnte :
Irgendwie weiß echt jeder, dass das hier eine Ausnahmesituation ist. Eine verdammte beknackte Ausnahmesituation. Ich fühl mich wie in einem beschissenen Mittelalterfilm, in dem irgendwelche Männer sich Duelle liefern, und danach ist einer tot. Und die Frauen stehen blöd am Rand und halten sich die Augen zu 19.
Auffällig bei dieser Passage ist, dass die Autorin nicht einmal in der Lage ist, Wirklichkeit zu simulieren. Sie arbeitet mit Wiederholungen (« Irgendwie, irgendwelche »), komprimiert Fäkalsprache in ihrer Bündelung von Adjektiven derart, dass der Eindruck von Übertreibung und Realitätsferne entsteht. So spricht, so denkt ein Kind oder Halbwüchsiger schlechterdings nicht. Dies ist jedoch kein artifizieller Effekt, es ist nicht gewollt, sondern der Autorin unterlaufen, fern jeglicher Art von Ironie oder Satire. Das ist ungekonnt, ohne Raffinesse und literarisches Talent. Dergleichen Passagen vermag beinahe jedermann zu schreiben, was daran Kunst sein soll, erschließt sich nicht.
Damit einher gehen inhaltliche Aspekte. So komprimiert die Autorin vielfach Klischees, wenn etwa Verteidigungen ihres Protagonisten so beschrieben sind, als wären sie einem Anti-Mobbing-Lehrbuch entnommen 20. Ein weiteres Beispiel für solche Vereinfachungen mag die Beschreibung bzw. Charakterisierung der Figur des « guten Freundes » sein, der für den jungen Leser ein Vorbild sein soll : nämlich selbst nicht ganz perfekt, aber völlig loyal dem Ausgegrenzten gegenüber 21. Das merkt auch Sera, nachdem Nikos Freund Little ein längeres Gespräch mit ihr geführt und sie ermahnt hat, den dicken Freund gut zu behandeln : « Ich schau hoch und guck in sein spitzes Gesicht. Und da weiß ich, dass Niko seine X-Beine und sein Nilpferdbauch eigentlich total egal sein können, solang er solche Freunde hat 22. » Ein Höhepunkt des Peinlichen wird in der Beschreibung eines absurden Zweikampfs erreicht, in dem Niko, der Benachteiligte und Gemobbte, seinen schlimmsten Widersacher besiegt 23. Auch dieses Buch gipfelt in einer abschließenden « Moral von der Geschicht‘ », hier nicht in Form einer Rede komprimiert, sondern in einem Bild dargestellt, das an ein Gleichnis erinnert. Niko und Sera befinden sich nach einem beherzten Sprung in den See unter Wasser :
Wenn sich ihre Haare im schwarzen Moorwasser wiegen wie die weichen Unterwasserpflanzen und wenn sie dann spürt, wie leicht es ist, in diesem Wasser zu schweben, und dass wir beide genau gleich sind in diesem Wasser, genau gleich nass und gleich moorschwarzgelb und gleich schwerelos, was dann? Ja, was dann 24 ?
In der Diffusität und Schwerelosigkeit des Wassers verschwimmen die Unterschiede, Nachteiliges gibt es nicht mehr. Nicht nur das junge Paar ist gleich, alle sind gleich, und Ziel muss es sein, Zustände zu erreichen, die wie das « schwarze Moorwasser » sind, das alles gleich macht : Gleichheit für alle heißt die Parole, nicht etwa gleiche Wertigkeit, trotz Unterschiedlichkeit. Dies ist eine nicht zuletzt politische Utopie, die vor den Hintergrund des Gleichheitsdiskurses zu stellen ist, der seit einigen Jahren aufs Neue geführt wird. In der Gleichheit aller werden Unterschiede aufgehoben, Schwächen ausgeglichen, jedoch auch das je Eigene nivelliert. Löst sich jedoch das Einzelne auf im Gleichen, so geht dies zwangsläufig einher mit dem Verlust von Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung und kulminiert im schlimmsten Falle im Totalitären 25.
Solcherlei Unselbstständigkeit wiederum macht anfällig für Klischees wie die hier vielfach bedienten. Dabei wären Kinder im Gegenteil dazu anzuhalten, deren manipulativen, persuasiven Charakter zu durchschauen. Nicht zuletzt angesichts auch des Schönheitskults in den neuen Medien sollten sie Kompetenzen ausbilden, um nicht nachzuplappern, was ihnen in berührenden Geschichten oder Bildern suggeriert wird – selbst wenn die dahinterstehenden Ideen vielleicht gut gemeint sind. Denn wenn sie den klischeehaften Ausführungen von Höfler oder Palacio bedenkenlos folgen, warum sollten sie sich dann solch bedenklichen Botschaften, wie sie etwa Heidi Klum in ihrer Sendung « Deutschland sucht das Supermodell » verkündet, verschließen ?
Viel wichtiger, als Kinder in welcher Art auch immer zu indoktrinieren wäre es also, sie zu unterstützen, Sachverhalte zu durchdenken und sich dann behaupten zu können. Sie sollten gegen die Verführungskraft fremder Parolen gewappnet werden, um sich nicht fremdbestimmt für welche Zwecke auch immer instrumentalisieren zu lassen, was nichts anderes bedeutet, als auch politisch mündig, « selbstständig » zu sein. Ein weiterer Mangel beider Bücher aber ist deren Realitätsferne, die durchaus eine Gefahr darstellt. Insofern drängt sich die Frage auf, wie hilfreich Literatur dieser Art ist, ganz jenseits ihrer mediokren Qualität. Hier wird nämlich mit Kategorien einer längst obsoleten romantischen Kindheitsutopie gespielt, wie sie von Weinkauff und von Glasenapp beschrieben wird, ohne jedoch über deren ästhetisches Potenzial zu verfügen. « Das Kind lebt in Einheit und Harmonie mit der es umgebenden Welt und hat eine unmittelbare Affinität zur Natur 26. » Palacio und Höfler nun führen vor, dass dies auch in der Gegenwart und auch für das behinderte, entstellte Kind möglich sein kann.
Zweifellos gibt es solche arme Gestalten an unseren Schulen. Doch was hilft es, sie, die sich gerne verstecken wollen, derart in die Öffentlichkeit zu zerren ? In den beschriebenen Werken besteht ein seltsames Dilemma : auf der einen Seite wird sehr eindrücklich dargestellt, wie schlecht es den Protagonisten tatsächlich geht, so, als wolle man nicht die Augen verschließen vor Tatsachen ; ein Pseudorealismus, der, wie gezeigt, bis auf die Ebene der Sprache nachzuverfolgen ist. Auf der anderen Seite wird, während Realitätsnähe suggeriert wird, ein wenig realistisches, glückliches Ende in Aussicht gestellt. Es wird ein Trost versprochen, den die Benachteiligten in unseren Klassenzimmern wohl nur selten finden werden. Wie in Andersens Märchen vom hässlichen Entchen, das sich in einen wunderschönen Schwan verwandelt, wird ihnen immer wieder eine positivere Zukunft versprochen, da sie dank ihrer inneren Werte über äußere Widrigkeiten triumphieren werden. Wenn, ja wenn nur die anderen ein besseres Herz hätten, über mehr Einfühlungsvermögen verfügen würden, mehr Mut beweisen würden und sich nicht von Äußerlichkeiten blenden ließen, dann würde sich auch das Leben der Außenseiter zum Besseren wenden.
Indem diese Werke den Lesenden das Leid der Schwächeren so drastisch vor Augen führen und sowohl richtige als auch falsche Reaktionen auf dieses Leid gezeigt werden, wollen sie die jungen Lesenden zu genau solch edlen Charakteren erziehen. Mit Tränen in den Augen werden solche Werke rezipiert, Betroffenheit macht sich breit – möglicherweise auch der Wunsch, sich tatsächlich zu bessern, genauer hinzuschauen, achtsamer und überhaupt von nun an ein besserer Mensch zu sein. Dabei allerdings wird übersehen, dass Hässlichkeit keineswegs immer mit besonders guten « inneren Werten » einhergeht. Es ist nicht so, dass der « Dicke » in der Klasse, der Rollstuhlfahrer, der Blinde, der Hyperaktive etc. immer auch besonders witzig, klug und großzügig ist. Hier werden Klischees bedient, die mit der Wirklichkeit wenig gemein haben, ja gar nichts gemein haben wollen. Vielmehr ist man hier an Hollywood-Schnulzen erinnert, und tatsächlich wurde Wunder ja auch zu einer solchen verfilmt. Und so wenig eine glückliche Liebesbeziehung dadurch gefördert wird, dass man gesehen hat, wie Hollywood-Ikonen einander glücklich in die Arme sinken, kann man nach der Lektüre eines solchen Buches ein real existentes, gesellschaftliches Problem lösen.
In diesen Büchern wird nur vorgetäuscht, man würde sich ernsthaft für dieses Problem interessieren. In Wirklichkeit jedoch geht es darum, auf Hollywoodniveau Geld zu verdienen. « Kulturindustrie » könne man dies, an Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung erinnernd, nennen, Geldmacherei unter dem Vorwand, Kultur und Werte zu schaffen 27 ; in diesem Falle besonders verwerflich, da es auf Kosten von Mobbingopfern und Behinderten geht. Man bedient die niedersten Instinkte der Lesenden und der Filmschauenden, die hinter dem Deckmäntelchen der Empathie ihrem Voyeurismus frönen können, drückt auf deren Tränendrüsen, schafft emotionale Momente und hilft wirklich Betroffenen in keiner Weise weiter. Damit einher gehen zweifelhafte, unausgegorene politische Utopien, die ein weiteres Gefahrenpotenzial in sich bergen.
Auch die positiven Figuren sind in ihrer Überhöhung wenig realistisch. Obwohl in beiden Büchern die Erzählperspektiven wechseln und so auch Zweifel, Ängste und charakterliche Schwächen offenbar werden könnten, werden die Figuren doch durchweg positiv gezeichnet. Hinzu kommen kleine Denkhilfen von außen. Sara findet Unterstützung in ihrem weltoffenen Bruder Fardid, der ihr Dilemma im Hinblick auf Niko auf den Punkt bringt : « Ich meine, du magst den, oder ? Ihr hattet ne gute Zeit, der ist schlau, sogar witzig, was man so hört. […] Du bist gern mit dem zusammen […] Und dann sieht der aber eben so aus. So, dass man echt unmöglich mit dem zusammen sein kann. Eigentlich 28. »
Eigentlich kann man nicht mit dem dicken Niko zusammen sein, aber mit der richtigen inneren Einstellung eben doch. Noch deutlicher wird Raquel J. Palacio. Hier werden den Lesenden gleich die richtigen Maximen vermittelt, z. B. « Wenn du die Wahl hast, ob du Recht behalten oder freundlich sein sollst, wähle die Freundlichkeit 29 ». Diese Maximen, wohlgemerkt, dienen nicht der Diskussionsgrundlage, sondern sind « Regeln über wirklich wichtige Dinge 30 ». Sie sind mehr als ein erhobener Zeigefinger, hier werden Haltungen vermittelt, die es nicht zu hinterfragen gilt. Wer die Wahrheit über die Freundlichkeit stellt, ist fehl am Platze. Es soll noch nicht einmal nach der Wahrheit gefragt werden, sondern stattdessen eine allgemeine, süßliche, undurchdachte und nur vordergründig aufrechtzuhaltende Freundlichkeit darüber gegossen werden. Mit dieser allerdings ist es spätestens dann zu Ende, wenn, um Höflers Bild weiterzudenken, das junge Paar wieder aus dem Moorwasser steigt. Diesen Moment spart das Buch wohlweislich aus – es endet, bevor Seras « Kopf wieder aus dem rausschießt 31 ». Dann nämlich bricht sich die Realität wieder unerbittlich ihre Bahn. Oder wollen Niko und seine Freundin Sera ewig im Wasser bleiben, im Entgrenzenden, alles leicht Machenden, aber auch Betrügenden ?
Ziel des Deutschunterrichts ist es nicht, Kindern bestimmte Meinungen überzustülpen. Stattdessen gilt es, ein besseres Verständnis der eigenen Lebenswirklichkeit zu erlangen. Dies geschieht, wie das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen betont, « in Auseinandersetzung mit substanziellen Fachinhalten 32 ». Welche Fachinhalte tatsächlich « substanziell » sind, wird nicht geklärt, aber dass diese Bücher dazu gehören, erscheint fraglich. Die Hauptaufgabe der Lehrenden besteht heute nicht (mehr !) darin, vorgegebene Haltungen zu vermitteln und am Ende gar Merksätze zu präsentieren, sondern den Kindern Zeit und Raum zu lassen für ihre individuellen Gedankenentwicklungen. Solche Gedankenentwicklungen werden aber nicht angeregt durch Texte, deren Aussage so unmittelbar ersichtlich ist. Stattdessen bedarf es Texte, die irritieren, beunruhigen, verwundern oder sich auch zunächst gänzlich dem Zugriff entziehen, die zum Nachdenken zwingen, zum Austausch auffordern und eine Diskussion im Klassenzimmer beleben können 33.
Eine solche Beschäftigung könnte auf längere Sicht – nicht nur bei Kindern – möglicherweise tatsächlich zu einer Veränderung, eventuell zu einer Verbesserung führen, und zwar hinsichtlich der eigenen Urteilskraft, und dadurch letztlich sogar hinsichtlich der Gesellschaft und der menschlichen Kultur. In jedem Fall verhilft sie aber dazu, dem großen Ziel, sich selbst in der eigenen Lebenswirklichkeit besser zu verstehen, näherzukommen. Im Hinblick auf die Körperlichkeit gibt es in der Kinder- und Jugendliteratur einen solchen Text bereits seit Jahrzehnten. Er ist kurz und von höchster ästhetischer Qualität. Darüber hinaus stammt er von einem der bekanntesten deutschen Dichter : Bertolt Brecht. Gemeint ist das 1937 entstandene Gedicht Der Pflaumenbaum, das den Svendborger Gedichten zugehört :
Im Hofe steht ein Pflaumenbaum
Der ist klein, man glaubt es kaum.
Er hat ein Gitter drum
So tritt ihn keiner um.
Der Kleine kann nicht größer wern.
Ja größer wern, das möchte er gern.
´s ist keine Red davon
Er hat zu wenig Sonn.
Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum
Weil er nie eine Pflaume hat
Doch er ist ein Pflaumenbaum
Man kennt es an dem Blatt 34.
Auch hier geht es um eine körperlich Außergewöhnlichkeit oder Abnormität. Auf ein mickriges Bäumchen wird offenbar höhnend nach Kindermanier mit dem Finger gezeigt. Darauf deutet zumindest das durch Kursivierung herausgehobene « Der » im zweiten Vers, das die auffallend geringe Größe des Gewächses indiskret und erbarmungslos ins Licht der Aufmerksamkeit zerrt. Der Baum muss sogar mit einem Gitter vor Tieren oder Menschen, die größer sind oder mehr Kraft haben und ihn deshalb verdrängen oder ihre Häme über ihn ergießen könnten, geschützt werden. Damit bietet das Bäumchen genügend Projektionsfläche, um über das Thema, dass jemand wegen seines Äußeren gemobbt wird, zu diskutieren : Möglicherweise symbolisiert es ein Kind, das über wenig Selbstbewusstsein verfügt, isoliert und unbeliebt ist. Das Gitter könnte darauf hindeuten, dass es überhütet ist, ein typisches Merkmal vieler Mobbingopfer 35.
Brecht hatte 1922 mit dem « Baum Green » bereits einen anderen unscheinbaren Baum geschaffen, der im Hinterhof einer Großstadt sein zunächst kümmerliches Leben fristet, sich dann aber hartnäckig seinen Platz verschafft 36. Die Gattung dieses Baumes wurde hier gar nicht näher spezifiziert – den kleinen Baum aus dem Jahr 1937 weist immerhin das Blatt als Pflaumenbaum aus. Aber dennoch bleibt er wegen seiner schwächlich, auch ein wenig peinlich wirkenden Kleinwüchsigkeit der Lächerlichkeit preisgegeben. Man kann sich nicht recht vorstellen, dass aus dem Kleinen noch etwas wird – und es wird auch nicht versprochen. Doch darum geht es nicht. Das Gedicht ist eher eine Zustandsbeschreibung, die zunächst abstrus wirkt, jedoch über mehrere Ebenen verfügt, die u.a. auch durch den zeitgeschichtlichen Hintergrund, etwa Brechts Situation im Exil, deutbar werden 37.
Im Kontext der Körperlichkeit ist nun die erste schon angesprochene, vielleicht naive Deutungsmöglichkeit dieses Gedichts hochinteressant. Sie ergibt sich, wenn man vom Vordergründigen ausgeht, von dem kümmerlichen Gewächs, das im Hof steht und verhöhnt wird. Leicht kann man sich die Situation auf einem Schulhof vorstellen, auf dem in der Pause nicht selten gerade die Schwachen gemobbt werden. Davon können auch Auggie und Niko ein Lied singen. Aus welchen Gründen auch immer einzelne sich von der Mehrheit unterscheiden, nutzt diese ihre Überlegenheit, um das Opfer zu verspotten und ihm gegenüber vielleicht sogar handgreiflich zu werden. Ein wesentliches Merkmal verbindet die betroffenen Kinder und den kleinen Baum : Sie wachsen und sind noch im Begriff, sich zu entwickeln, haben aber offenbar nicht die Möglichkeiten oder die Fähigkeiten, mit den anderen mitzuhalten und geraten so im Konkurrenzkampf mit den Gleichaltrigen ins Hintertreffen. Sie nehmen die schwächere Position ein und werden somit leicht zum Opfer derer Injurien.
Im Gegensatz zu den Jugendbüchern verrät das Gedicht nichts über die Ursache der Probleme. Sie können sehr vielfältig sein und lassen daher in den Lesenden oft völlig unterschiedliche Bilder entstehen. Vielleicht ist das Kind fremd, zugewandert und ähnlich wie mancher Exilant noch nicht so recht an die Licht- und Bodenverhältnisse der neuen Umgebung gewöhnt ? Vielleicht ist es wirklich sozial benachteiligt, ein Proletarierkind ? Oder es hat eben ein Gebrechen, einen Gendefekt, Übergewicht oder eine dicke Brille. Vielleicht ist dieses Kind auch einfach intelligenter, sensibler, weniger robust als die anderen und für sie gerade deshalb eine derart große Provokation, dass Schutzmaßnahmen durch mehr oder weniger engagierte Lehrkräfte, für die das Gitter stehen könnte, notwendig werden ? Vielleicht sind es die Angst vor den Peinigern oder der Druck, sich ständig für sein Talent, seine Fähigkeiten rechtfertigen zu müssen, die es an seiner Entfaltung hindern ? All diese Situationen entspringen dem tagtäglichen Miteinander des Schulalltags und sind für jeden unmittelbar nachvollziehbar, der sich einmal im Verbund von Kindern befand – weil er selbst eines war oder z. B. als Lehrkraft das Gitter für den Schutzbefohlenen zu errichten hatte.
Bei Brecht wird die Schwäche nicht den Schaulustigen vorgeführt, die « zu einem guten Stück mit Erleichterung vermischt 38 » feststellen können, dass es ihnen eben besser geht. Es bedarf keines Auggie, keines Niko. Dennoch ist das Bild des kleinen Bäumchens so eindrücklich, dass man es nicht vergisst. Es bietet die Möglichkeit, sich einzufühlen, ohne andere abzuwerten und ohne bestimmte Interpretationen vorzugeben.
Die Bildhaftigkeit des Gedichts spricht Bereiche an, die Kinder bewegen, ihre Fantasie anregen und sie zum Austausch miteinander reizen. Brecht nimmt seine kindlichen Leser ernst und traut ihnen zu, sich ähnlich wie Erwachsene selbstständig mit verschiedenen grundsätzlichen, gesellschaftlichen, auch moralischen Problemen auseinanderzusetzen. Neben der Problematik der Körperlichkeit können auch Aspekte wie Selbstverwirklichung, Verantwortung, Freiheit usw. bei der Analyse des Pflaumenbaums einen Schwerpunkt bilden. Dabei wird den Kindern aber durch das Gedicht keine Meinung oder Haltung suggeriert. Vielmehr ist es eine Konstante in Brechts Lyrik, immer wieder davor zu warnen, sich « verführen » zu lassen. Auch wenn dieser Begriff gewiss sexuell konnotiert ist, warnt Brecht eben nicht vor solchen Verführungen, sondern davor, sich ohne Sinn und Verstand einer Maxime oder Ideologie hinzugeben, wie sie in Wunder mit der ethisch-moralischen Haltung, die gar explizit über die Wahrheit gestellt wird, eingefordert wird ; ebenso aber auch davor, sich den Erwartungen der Gesellschaft, der Eltern oder Lehrkräfte bedingungslos unterzuordnen. Stattdessen solle man sich, so Brecht, nach dem richten, was man für sich selbst als richtig erkannt hat ; auch wenn dabei so « asoziale » Gestalten wie Baal, der Protagonist seines ersten Dramas, oder Andreas Kragler, die zentrale Figur aus Trommeln in der Nacht, herauskommen – oder der stets lavierende Brecht selbst.
Als Subjekt solle der Mensch leben und die Welt in erster Linie für sich selber nutzbar machen ; das wiederum funktioniert in Brechts Weltsicht nicht unbedingt durch Standhaftigkeit, sondern eher durch Flexibilität, wie sie auch jener schon erwähnte Baum Green zeigt. Dies sollte jedoch nicht als Aufruf zu Egoismus und Skrupellosigkeit missverstanden werden. Vielmehr geht es darum, sich zu grundsätzlichen Fragen eine eigene Meinung zu bilden, dabei aber aufmerksam in der Welt zu bleiben und nicht im Moorwasser zu versinken.
Bei der Auseinandersetzung mit dem Gedicht sehen Kinder sehr schnell den Baum als Bild für ein Kind, das aufgrund seiner körperlichen Schwäche nicht für voll genommen wird. Sie erkennen Parallelen zu sich selbst oder Klassenkameraden : « Alan ist auch klein. Man glaubt kaum, dass er schon 7 Jahre alt ist. » (Frank, 2. Klasse). Alles Weiterführende, Differenzierende ergibt sich dann auf dieser Basis. Eine Diskussion im Klassenzimmer etwa zu der Frage : « Ist es schlimm, dass das Bäumchen keine Pflaumen hat ? » bietet ein weites Feld, um unvoreingenommen und intensiv gerade über Körperlichkeit nachzudenken. Fast leidenschaftlich versuchen die Kinder zu ergründen, wie das Bäumchen, das den Erwartungen nicht gerecht wird, sich wohl fühlt. Die erste Reaktion – und schon das ist bezeichnend – ist eben jene « Freundlichkeit », die Mr. Pomann so wortreich fordert. Sie fühlen Mitleid mit dem Schwachen und schon Erstklässler wissen, dass sie ihm mit Freundlichkeit und Großzügigkeit begegnen sollen : Das Bäumchen könne ja nichts für seine Andersartigkeit, es sei trotzdem schön, vielleicht verfüge es ja über andere Talente, könne also z. B. mit seinen Blättern die Luft reinigen etc. Doch dann – und das unterscheidet die Auseinandersetzung mit dem Brecht-Gedicht von der Lektüre oben beschriebener Werke –, wagen die Kinder sich weiter vor. Sie sehen sich auch in der Rolle derjenigen, die um die Pflaumen betrogen wurden, also keinen Kuchen backen können oder gar Pflaumen zum Verkauf anbieten können. Eine Frage führt zur nächsten und auch ohne Anleitung von außen vertiefen sich bereits Grundschulkinder in tiefgründige philosophische Gedankenspiele : Wozu brauche ich einen Pflaumenbaum, der doch keine Pflaumen liefert ? Und umgekehrt : Ist es denn die Aufgabe eines Pflaumenbaums, mir nützlich zu sein? Wofür steht die Sonne, an der es dem Bäumchen offenbar mangelt ? Könnte dem Bäumchen geholfen werden ? Schützt das Gitter oder behindert es die Entfaltung des Bäumchens? Es ist höchst erstaunlich, zu welch eigenen, auch moralischen und gut begründeten Urteilen die Kinder gelangen. Nicht, weil ihnen etwas vorgegeben wurde, sondern weil sie die Situation durchdenken und mit ihren eigenen Erfahrungen in Beziehung bringen.
Auch Kaspar Spinner hält für eine solche Verknüpfung von literarischer Welt und Erlebniswelt Brecht-Texte ausdrücklich für geeignet. Die Kinder setzen sich über die Beschäftigung mit den Gedichten mit ihrer eigenen Identität auseinander, « gehen ihrer Neugier auf andere Menschen nach und entwickeln ihr Fremdverstehen 39 ». Dabei führt hier die Identifikation mit Brechts Pflaumenbaum über die bloße Einfühlung hinaus zu großen gesellschaftlichen und auch historischen Zusammenhängen ; es handelt sich nicht um ein rein « kulinarisches », sondern um ein « kritisch-analytisches » Einfühlen, wie Brecht es auch in seiner Theorie des Epischen Theaters lehrt. Dank seiner literarischen Qualität entspricht dieses Brechtsche Kindergedichte auch jenem Merkmal, das Dieter Richter als das wichtigste, ja als « Grundsatz einer Poetik der Kinderliteratur 40 » betrachtet, nämlich dass die Texte auch für Erwachsene interessant zu sein haben. Das wird besonders deutlich, wenn man sich die Prämisse vor Augen führt, dass gute Kinderliteratur auch für Erwachsene ansprechend sein sollte. Damit geht einher, dass sie zwar belustigt oder informiert, aber eben nicht belehrt, denn dann würde sich spätestens der erwachsene Leser – hoffentlich – der Lektüre sperren.
Einen besonderen Reiz erzeugt dabei, dass die politischen und historischen Implikationen nicht immer unmittelbar ersichtlich sind und nicht unbedingt von Kindern jeder Altersstufe jederzeit erkannt werden können. Denn auch wenn das Gedicht im Hinblick auf die Schwächlichkeit des Baumes gründlich analysiert wurde, bleiben doch immer noch rätselhafte Elemente und arbeiten im Geist der Kinder fort ; möglicherweise fordern die Kinder später, wenn sie weiter gereift sind, eine erneute, vertiefte Auseinandersetzung mit dem Gedicht – und werden dann, wenn es nicht mehr das Problem der Körperlichkeit ist, das sie beschäftigt, zu ganz neuen Interpretationsebenen vordringen. Die verschiedenen Aspekte, über die nachzudenken der kleine Pflaumenbaum anhält, reichen von der Fruchtlosigkeit über Unfruchtbarkeit, die Kinder durchaus thematisieren, bis zur Situation eines Dichters im Exil oder die Problematik der inneren Emigration. Diese unterschiedlichen Aspekte widersprechen einander keineswegs 41.
So begleitet dieses Gedicht seine Leserinnen und Leser im Idealfall durchs ganze Leben und bietet bei jeder neuen Konfrontation und in jeder neuen Situation auch neue Erkenntnisse – was bei einer wiederholten Lektüre der beiden Kinderbücher eher selten der Fall sein dürfte. Trotz dieser vielfältigen Deutungsmöglichkeiten erfordert das Gedicht von den Kindern kein allzu abstraktes Denken, das sie in diesem Alter womöglich überfordern würde. Schon Vierjährige produzieren eine Fülle von Metaphern ; zwar steht bei der Beschäftigung mit Lyrik weniger das Verwenden selbst kreierter Metaphern, sondern vielmehr die – wesentlich schwierigere – Dekodierung fremder Metaphern und deren Einbettung in den Sinnzusammenhang im Vordergrund 42, doch sind die Kinder durchaus in der Lage, anhand konkreter lyrischer Bilder auch über abstrakte Beziehungen nachzudenken, Hypothesen zu bilden und diese auf ihre Tragfähigkeit hin zu befragen 43.
Die Beschäftigung mit den Fragen, die Brechts Lyrik aufwirft, fordert die problemlösenden und begriffsorientierten Fähigkeiten des Verstandes in einer Art und Weise heraus, wie das die beiden Jugendbücher bei aller Gefälligkeit nicht vermögen, weil ihnen eben jene Tiefe und Tiefsinnigkeit fehlt. Anders ausgedrückt : Wenn sich die Schülerinnen und Schüler über Jahre mit Texten von Palacio und Autoren ähnlicher Qualität befassen und ihnen auch noch eine hohe Wertigkeit solcher Literatur nahe gebracht wird, werden sie es in Zukunft schwer haben, sich dem Werk Brechts, aber auch dem anderer großer Autoren der deutschen Sprache, zu öffnen. Entsprechend haben immer mehr Jugendliche in den weiterführenden Schulen Schwierigkeiten, klassische Texte zu verstehen. Dies kann nicht verwundern. Denn obwohl der neue LehrplanPLUS für Bayerischen Grundschulen in den « Leitlinien für die Erziehung und Bildung » ausdrücklich jene Kompetenzen fordert, die über die Auseinandersetzung mit Gedichten vermittelt werden können, verschwinden solche klassischen, anspruchsvolleren Gedichte mehr und mehr aus dem Unterrichtsgeschehen. Dies ist auch als eine Folge der Ergebnisse der PISA-Studien zu betrachten, die dazu führten, dass die Förderung einer allgemeinen Lesekompetenz zu Ungunsten des Literaturunterrichts in den Vordergrund rückte 44, bzw. « höhere Literatur » allzu schnell über Bord geworfen wurde ; eine Tendenz, die ihre Anfänge schon in den siebziger Jahren genommen hatte 45.
Dass hier bereits Probleme bestehen, zeigen auch die im Internet boomenden Angebote über die sich Jugendliche Informationen über literarische Werke verschaffen können, indem sie mehr oder weniger lustige und sehr kurze Erklärvideos dazu anschauen. Wörter, die zwar in anspruchsvollen Texten, nicht aber in der gesprochenen Sprache Verwendung finden, sind den Schülern oft gar nicht mehr bekannt. Die neuen Medien verdrängen die Literatur nicht nur aus dem Alltag der Schüler, sondern auch aus dem Unterrichtsgeschehen, wo häufig nur noch Auszüge eines Werkes besprochen werden und dann auf dessen Verfilmung zurückgegriffen wird – was ja bei Wunder problemlos möglich ist und auch praktiziert wird.
Würden aber in der Schule Werke ausgewählt, die zum Umgang auch mit schwierigen Texten ermutigen, würden die Weichen von Anfang an so gestellt, dass die Kinder später auch bei der Lektüre klassischer Literatur nicht von vorneherein überfordert sind. Übrigens ist dies ja bei der Musik-Rezeption nicht anders : Wer die ersten achtzehn, zwanzig Jahre seines Lebens nur Techno hört und permanent dessen Akzeptanz suggeriert bekommt, dem wird es schwer fallen, Bachs h-Moll-Messe oder den Da Ponte-Opern Mozarts in angemessener Weise zu begegnen. Deren komplexere Strukturen lassen sich ohne Vorbildung nur schwerlich erschließen 46.
Ähnlich kann es nur bei frühzeitiger Beschäftigung mit hochwertiger Lyrik gelingen, über das Minimalziel hinauszugelangen, kurzfristigen Spaß am Umgang mit Gedichten zu vermitteln. Im Idealfall wird mit der Brechtschen Kinderlyrik der Wunsch geweckt, sich immer wieder mit Gedichten zu beschäftigen und dadurch die Möglichkeit eröffnet, sich im Laufe der Schulzeit auch Zugang zu wesentlich komplexeren Gedichten zu eröffnen 47. Nur ein so geschultes und « gebildetes » Leseverständnis kann letztlich dem berechtigten Postulat der Lehrpläne dienen, ein besseres Verständnis der eigenen Lebenswirklichkeit zu erlangen.
Das Resümee ist zugespitzt und umfasst vor dem hier aufgezeigten Hintergrund auch nur wenige Worte. Warum zu den Werken Palacios und Höflers greifen, wenn es längst Besseres und Bewährtes gibt, mit dem man sich stringenter denselben Problemen stellen kann, die die Autorinnen in ihren Romanen vorführen ? Warum zu den Werken Palacios und Höflers greifen, wenn mit Brechts Kinder- und Jugenddichtung über Aktuelles und Zeitgebundenes hinaus eine Sensibilität, ein Interesse für Literatur, für Kunst, ja, für Werte eines aufklärerisch-individualistischen Menschenbilds auf humanistischer Basis geweckt werden kann, das möglicherweise weiterführend ist ? Das sind Optionen, für die sich der Aufwand lohnt, den die Beschäftigung mit Werken von Brecht zweifellos mit sich bringt.
- Hans-Heino Ewers, Gewalt in aktuellen Kinder- und Jugendmedien. Von der Verherrlichung bis zur Ächtung eines gesellschaftlichen Phänomens, Weinheim und München, Juventa, 2007, S. 13.
- Raquel J. Palacio, Wunder, München, Carl Hanser, 2018.
- Stefanie Höfler, Tanz der Tiefseequalle, Weinheim Basel, Beltz & Gelberg, 2017.
- Id., S. 5.
- Ibid.
- Ibid.
- Ibid.
- Raquel J. Palacio, Wunder, op. cit., S. 10.
- Id., S. 77.
- Id., S. 118.
- Stefanie Höfler, Tanz der Tiefseequalle, op. cit., S. 57.
- Id., S. 57.
- Id., S. 19.
- Id., S. 140.
- Id., S. 33.
- Raquel J. Palacio, Wunder, op. cit., S. 425-428.
- Id., S. 74.
- Id., S. 34.
- Stefanie Höfler, Tanz der Tiefseequalle, op. cit., S. 178.
- Id., S. 156.
- Id., S. 162.
- Ibid.
- Id., S. 182.
- Id., S. 189.
- Martin Kaluza, « Der Einzelne in der Gemeinschaft. Gerechtigkeit als Kitt », S. 52-61, in Matthias Naumann, Mayte Zimmermann, Gemeinschaft und als Einzelner, Berlin, Neofelis, 2014, S. 59-61.
- Gina Weinkauff, Gabriele von Glasenapp, Kinder- und Jugendliteratur, Paderborn, Kjl & m, 2018, S. 52.
- Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Frankfurt/Main, Fischer, 1987, S. 145.
- Stefanie Höfler, Tanz der Tiefseequalle, op. cit., S. 152.
- Raquel J. Palacio, Wunder, op. cit., S. 74.
- Id., S. 71.
- Stefanie Höfler, Tanz der Tiefseequalle, op. cit., S. 189.
- Vgl. Kompetenzstufenmodell zu den Bildungsstandards für das Fach Deutsch im Kompetenzbereich « Lesen – mit Texten und Medien umgehen » – Primarbereich – Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 04.03.2010 Auf Grundlage des Ländervergleichs 2011 überarbeiteter Entwurf in der Version vom 13. Februar 2013. https://www.iqb.hu-berlin.de/institut/ab/bista/ksm/KSM_GS_Deutsch , S. 1.
- Maja Wiprächtiger-Geppert, Literarisches Lernen in der Förderschule. Eine qualitativ-empirische Studie zur literarischen Rezeptionskompetenz von Förderschülerinnen und -schülern im Literarischen Unterrichtsgespräch, Baltmannsweiler, Schneider, 2009, S. 280.
- Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin, Suhrkamp,1988-2000, S. 21.
- Martina Schäper, Mobbing unter Schülern. Eine didaktische Aufarbeitung der Kinder- und Jugendliteratur, Hamburg, Dr. Kovac, 2018, S. 22.
- Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, S. 305.
- Kathrin Waldt, Literarisches Lernen in der Grundschule. Herausforderung durch ästhetisch-anspruchsvolle Literatur, Baltmannsweiler, Schneider, 2003, S. 190-193.
- Stefanie Höfler, Tanz der Tiefseequalle, op. cit., S. 5.
- Kaspar Spinner, Moderne deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur. Überblick, Didaktik, Texte, Budapest, Nemzeti Tankönyvk, 1998, S. 16.
- Matthias Duderstadt, Matthias, Literarisches Lernen, Frankfurt am Main, Grundschulverband – Arbeitskreis Grundschule e.V., 1999, S. 13.
- Wolfgang Conrad, « Gedichte nicht nur für die eigenen Kinder – Bertolt Brechts Kinderlieder in den Svendborger Gedichten », S. 97-130, in Wolfang Conrad, Ernst-Ullrich Pinkert, Erich Unglaub, Brechts Söhne. Topographie, Biographie, Werk, Frankfurt/Main, Peter Lang, 2008, S. 119-121.
- Julia Knopf, Literaturbegegnung in der Schule. Eine kritisch-empirische Studie zu literarisch-ästhetischen Rezeptionsweisen in Kindergarten, Grundschule und Gymnasium, München, Iudicium, 2009, S. 56-62.
- Meike Aissen-Crewett, « Sind Kinder Philosophen ? », in Grundschule, N. 4, 7-8-1999, S. 83-85, S. 85.
- Johannes Odendahl, « Was ist literarisch am literarischen Verstehen ? », S. 67-82, in Carola Rieckmann und Jessica Gahn (Ed.), Poesie verstehen – Literatur unterrichten, Baltmannsweiler, Schneider, 2013, S. 67.
- Karin Richter, Kinderliteratur im Literaturunterricht der Grundschule. Befunde – Konzepte – Modelle, Baltmannsweiler, Schneider, 2007, S. 3.
- Manfred Spitzer, Musik im Kopf, Stuttgart, Schattauer, 2014, S. 223-228.
- Heinz-Jürgen Kliewer, « ‟Wem die Drossel nie sang” – Didaktische Überlegungen zum Gedicht », S. 100-118, in Matthias Duderstadt, Literarisches Lernen. Beiträge zur Reform der Grundschule, Frankfurt/Main, Grundschulverband, 1999, S. 109.