Ich will nicht so sein wie ihr mich haben wollt. Sexuelle Identität und Selbstakzeptanz in der zeitgenössischen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Ich will nicht so sein wie ihr mich haben wollt. Sexuelle Identität und Selbstakzeptanz in der zeitgenössischen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur

Par ATZENHOFFER Régine

War es in den vorhergehenden Jahrhunderten ein zentrales Anliegen der Kinder- und Jugendbuchautoren, die Kindheit und Jugend in einem Freiraum fernab sozialer Lebenswirklichkeit abzubilden darzustellen, geht es nun seit Anfang des 20. Jahrhunderts um eine literarisch neue Kindheitsauffassung : die jungen Leser sollen mittels der für sie erdachten Geschichten zunehmend in den Erwachsenenalltag integriert werden 1. Die zeitgenössische Kinder- und Jugendliteratur unterscheidet sich weitgehend von der bis dato gängigen « kindertümlichen » Literatur, die sich besonders für das Recht auf « Unbeschwertheit », « Naivität » und darauf, « an das Wunderbare zu glauben 2 » einsetzte. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts verzichtet sie auf die frühere Kindgemäßheit und im Fokus der einen unbeschönigten Wirklichkeitsbezug aufweisenden Werke stehen seither dieselben gesellschaftlichen Themen, die auch in der Erwachsenenliteratur behandelt werden. Sie beschäftigen sich mit der Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Protagonisten, erkunden innerpsychische Auswirkungen der äußeren Lebensumstände auf Jung und Alt, beleuchten Alltagsprobleme und « auch die dunklen Seiten des Alltags in Familie und Gesellschaft 3 » wie Krankheit, Tod, Gewalt oder sexuelle Identität.

In der Kinder- und Jugendliteratur werden nun auch Körperlichkeit, adoleszente Selbstfindung und Sexualität und vor allem jene Sexualität, die von der heteronormativen Sexualnorm abweicht, thematisiert 4. Sie widmet sich für die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen relevanten Themen, daher ist es naheliegend, daß sie sich auch mit Körperlichkeit und Sexualität befaßt und den pubertierenden Lesern eine Zugangsmöglichkeit zu noch allzu oft tabuisierten Themen wie z. B. nicht-heterosexuelle Familienverhältnisse, gendernonkonforme Kinder und Jugendliche und Lebensverhältnisse aus einem LGBT-Spektrum bietet, denn « Das Jugendbuch kann […] demonstrieren, daß gesellschaftliche Normen grundsätzlich veränderbar sind 5 ». In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte mit dem Tabu der Homosexualität und der sexuellen Orientierung gebrochen und die Queer-Thematik vermittelt werden. Es erschienen Geschichten über Liebe, Selbstbefriedigung und Geschlechtsverkehr. Dennoch zentrierten noch viele Werke das traditionelle Zwei-Eltern-Kernfamilienmodell und ordneten den Körper den sich im Feld der « Weiblichkeit » und der « Männlichkeit » bewegenden Geschlechtsidentitäten zu. Obwohl seit 1990 die Thematik Homosexualität wirklich Einzug in die Jugendliteratur hielt, geht es immer dennoch nur in wenigen jenseits der Heteronormativität angesiedelten queeren Werken. Von der Norm abweichende Geschlechterrollen, gleichgeschlechtliches Begehren, Zweigeschlechtlichkeit, schwule, lesbische, trans* Helden, gendernonkonforme Kinder, nicht-heterosexuelle Familienverhältnisse sowie Beispiele für ein Coming-out kommen z. B in den Werken von Marliese Arold 6, Nadine Roth 7, Maike Stein 8, Heike Karen Gürtler 9, Karen-Susan Fessel 10, Ben Böttger und Rita Macedo 11, Doris Meißner-Johannknecht 12, Adriana Stern 13 (Stern, 2003) und Mirjam Münterfering 14 vor. In der Kinderliteratur greifen die Autorinnen 15 eher auf « homosexuelle » Tier-Charaktere zurück, wenn es um die Repräsentation nicht-heterosexueller Begehrensformen geht. Christine Fehérs Roman Body. Leben im falschen Körper öffnete 2003 als erster deutschsprachiger Jugendroman dem Thema Transsexualität die Tür in die Jugendliteratur 16, so daß seit Anfang dieses Jahrhunderts auch die Transgender-Thematik Einzug in die Jugendliteratur hielt. Die Konstruktion von körperhafter Anschaulichkeit werden von u.a. Christine Nöstlinger 17, Tamara Bach 18, Karen Duve (Duve, 2004 ; Duve, 2002), Dagmar Chidolue (Chidolue, 1992) und Alexa Hennig von Lange (Hennig von Lange, 2005) aufbereitet.

Im ersten Teil dieser Arbeit soll geklärt werden, was allgemein in unserer okzidentalen Gesellschaft unter « Normalität » in Bezug auf Geschlecht, Sexualität und Lebensform verstanden wird und wie Cornelia Funke 19, Mirjam Müntefering und Kristina Dunker 20 mit besagter « Normalität » umgehen. Im zweiten Teil soll in einer werkimmanenten Analyse erörtert werden, wie sich in adoleszente weibliche Selbstfindung äußert, wie sexuelle und geschlechtliche Identität, die nicht der Heteronormativität entsprechen, thematisiert werden. Wie gehen die Autorinnen Cornelia Funke, Mirjam Müntefering, Kristina Dunker, Elisabeth Etz, Tamara Bach und Doris Meißner-Johannknecht in ihren jugendliterarischen Werken mit der nicht heterosexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität ihrer Protagonistinnen um ? Wie nehmen ihre weiblichen Romanfiguren ihre körperliche und geschlechtliche Identität wahr und auf welche Art und Weise (er)leben sie diese ? Ein dritter Teil dieser Arbeit beleuchtet das Tabuthema der Intersexualität, an welches sich das Bundesverfassungsgericht am 24.11.2011 heranwagte und entschied, daß im Geburtenregister ein dritter Geschlechtseintrag für intersexuelle Menschen möglich sein muß. In-betweenness d.h. Intersexualität 21  ängstigt im Gegensatz zur Antike noch viele Menschen der Neuzeit. 2002 schockierte und faszinierte der US-Schriftsteller Jeffrey Eugenides seine Leser mit der Geschichte einer Heldin, die weder Mann noch Frau ist und die in « Middlesex » letztendlich eine männlich geprägte Identität wählt 22. Auch Lilly Axsters 23, Karen-Susan Fessels 24, Ursula Rosens 25 und Christine Fehérs 26 Romangestalten passen nicht immer in das konventionelle Geschlechterschema. Wie wird z. B. in Christine Fehérs Werk Weil ich so bin das Zwischengeschlecht  konstruiert ? Letztendlich werden in einem vierten Teil die Reaktionen des näheren Umfeldes der gleichgeschlechtlichen Paare im Textkorpus hinterfragt.

Entscheidend für die Auswahl der Primärtexte ist die Haltung der weiblichen heranwachsenden Hauptfiguren in der für sie entscheidenden adoleszenten Lebensphase für die Entstehung von « Geschlechterbedeutung 27 », sowie deren Körperwahrnehmung und Leiberfahrung. Die Selbstverständlichkeit ihres Körpers wird erschüttert und « das leibliche Sein hat seine Fundamente verloren, der Körper wird zum Objekt, zum eigentümlich fremden Ding 28 ». Dadurch werden die Heldinnen auf der Suche nach der eigenen sexuellen Identität und Orientierung dazu gezwungen, einen körperlichen und identitären « Habitus zu entwickeln, zu spezifizieren, zu konturieren 29 ».

 

« Normal – was ist das überhaupt für ein Wort 30 ! »

In unserer immer noch weitgehend heterozentrischen Gesellschaft 31 werden andere sexuelle Lebensweisen als « Abweichungen von der Normalität » betrachtet. Die Homosexualität, Bisexualität, Transsexualität, Intersexualität und das Queersein widersetzen sich gesellschaftlichen Normvorstellungen und Geschlechtsrollenforderungen. Für Homo-, Pan-, Bi-, Inter- oder Asexuelle und Transgender gilt es nicht nur sich mit ihrer eigenen sexuellen Identität, sondern mit der heterosexuell normierten Gesellschaft auseinanderzusetzen, wobei die « Normalität » an « diskursive Ereignisse 32 » gebunden ist : « Diskurstragende Kategorien sind solche, durch deren Entfremdung – wenn man sie sozusagen aus dem betreffenden Diskurs herauszöge wie die Stahlteile aus einer Betonkonstruktion – der betreffende Diskurs nicht länger halten könnte und in sich zusammenbräche wie ein Kartenhaus 33 ». Bei der Normalität handelt es sich nach Link 34 um eine « historisch-spezifische Errungenschaft moderner okzidentaler Gesellschaften, die zuvor niemals existierte und auch heute in zahlreichen Gesellschaften nicht oder bloß in Ansätzen existiert » und « setzt mehr oder weniger vollständig verdatete Gesellschaften voraus ». Mit einer Norm zu übereinstimmen ist nicht das zentrale Bedürfnis des Menschen, sondern « zu sein, wie andere sind 35 ». Auf die von Mirjam Münterfering gestellte Frage « Normal – was ist das überhaupt für ein Wort 36 ! » antwortet Jürgen Link mit zwei Gleichungen : es gelten « erstens die Gleichung : normal = nicht deviant und daher = de facto akzeptabel, tragbar, tolerabel […] und zweitens die Gleichung : normal = nicht wirklich ernsthaft störend, normal = nicht zu dringender Intervention zwingend, keinen zwingenden Handlungsbedarf auslösend 37 ». Daraus ergibt sich jedoch eine weitere Frage, nämlich wo genau in Sprache, Bewußtsein, Identität, Körper, Geschlecht, Gefühlen, Sexualität und Lebensweisen die Grenze zwischen der Normalität und der Abnormität liegt. Bei Cornelia Funke, Mirjam Müntefering und Kristina Dunker leben die Eltern der Heldinnen in einer heterosexuellen Ehe oder streben eine solche an, wofür Sprottes Mutter folgende Begründung anführt : « Ich werde nicht jünger, Sprotte [ …] Das heißt, daß du irgendwann aus dem Haus bist und dann sitz ich allein hier und irgendwann werde ich dann so seltsam wie deine Großmutter […] es ist nicht gut, zu lang allein zu sein. Man wird seltsam davon 38 ». Die Motive eine Ehe einzugehen stehen in Verbindung mit dem gesellschaftlich vorgesehenen Ziel der heterosexuellen Liebe und der Angst vor der Einsamkeit. Daraus geht auch deutlich hervor, daß nur ein gemeinsames Leben mit einem Mann erstrebenswert und daß eine Frau nur mit einem Mann eine wahre, vollständige Frau ist. « Normal » scheint hier für Sprottes Mutter, die sich an der Norm der heterosexuellen Zweierbeziehung orientiert, eine Paarbeziehung bzw. eine Hochzeit zwischen Mann und Frau. Sowohl Femkes (Müntefering, 2004) als auch Caros Eltern (Dunker, 1999) entsprechen der gesellschaftlich traditionellen bzw. gewünschten Norm. Die heterosexuellen Beziehungen stehen hier im Mittelpunkt : Die Hauptfigur Sprotte hat einen Freund und auch die anderen drei Mädchen aus der Bande der wilden Hühner sind heterosexuell orientiert.

Es existieren also noch immer bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen über Männer und Frauen, Geschlechterzuweisungen und bestimmte Männlichkeits- und Weiblichkeitsbilder, von denen auch die Jugendbücher geprägt sind. Männlichkeit steht meistens noch für Aktivität, Mut, Verstand und Durchsetzungskraft ; Weiblichkeit hingegen für Schwäche, Emotionalität und Einfühlsamkeit. Die Konstruktion der Geschlechter fügt sich scheinbar in den vielgelesenen Romanen von Cornelia Funke, Mirjam Müntefering und Kristina Dunker in diese Geschlechternorm. Cornelia Funke vermittelt über die Protagonistin Melanie die gesellschaftlich zugeschriebene Aufgabe der Mädchen, für die Jungen begehrenswert zu sein. Weil Wilma diese Anerkennung nicht benötigt, wird sie von Melanie, die ein anderes sexuelles Interesse ihrer Kameradin nicht in ihre Überlegungen einbezieht, als verklemmt eingestuft : « Verklemmt ? Wer ist hier verklemmt ? Nur weil ich mich nicht von sämtlichen Jungs der Schule angrapschen lasse 39 […] ? » Auch bei Mirjam Müntefering geht Dunja von der Heterosexualität von Camilla aus und vermutet daher eine Liebesbeziehung zu Tobias : « Seid ihr zusammen oder was ? Camilla sieht sie verwundert an, läßt sich dann aber nichts weiter anmerken. Ganz cool sagt sie : Das Einzige, was wir zusammen haben, ist Geburtstag 40 ». In Kristina Dunkers Roman Der Himmel ist achteckig 41 fragt Caros Freund Tilo, nachdem sie ihm von ihrer neuen Freundin Enza erzählt hat : « Hat diese Enza eigentlich einen Freund ? » Aus dieser Frage geht klar hervor, daß Enzas Wert als Frau über einen sie als Sexualobjekt anerkennenden Mann bestimmt wird, der ihre Weiblichkeit bestätigt. Auch geht Tilo davon aus, daß Caro sich nur für Jungen interessiert und er auf Enza nicht eifersüchtig zu sein braucht, denn  : « Bei allen Jungen, die ich kennen lerne, fragt er mir ein Loch in den Bauch, will alles über sie wissen und setzt bei jeder Gelegenheit seine Eifersuchtsmiene auf. Aber Enza ist eine Frau, was soll die schon anrichten 42 ? » Sein streng heterozentristisches Denken hindert ihn daran, die Tatsache wahrzunehmen, daß er Caro auch an eine Frau verlieren könnte. Es sieht aus als ob in diesen Werken die den sozialen Vorstellungen entsprechende Heterosexualität 43 als eine gesellschaftliche Institution verstanden wird : « Institutionen sind stabile, dauerhafte Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich gelebt werden. Gesellschaftliche Institutionen entlasten Menschen von Entscheidungen, können aber auch eine Quelle der Unterdrückung und Fremdbestimmung darstellen 44 ».

Jedoch stimmen diese drei Romane bei näherem Hinblick mit der Auffassung, wonach es von Natur aus nur zwei Geschlechter, d.h. Mann und Frau, gebe und der Polarisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit nicht gänzlich überein. Die Sexualität entspricht hier nicht mehr zwangsläufig einer bestimmten sozialen, gesellschaftlichen Vorstellung. Die Autorinnen hinterfragen frühere Selbstverständlichkeiten durch neue sexuelle Identitäten und Lebensformen, die auf einem gesellschaftlichen « Entwicklungsprozeß, in dem immer mehr Menschen unterschiedliche Lebensformen leben und neue Lebensformen entstehen 45 » beruhen. Heterosexualität wird somit nicht länger als eine gesellschaftliche Institution verstanden, denn « Institutionen sind stabile, dauerhafte Muster menschlicher Beziehungen, die in einer Gesellschaft erzwungen oder durch die allseits als legitim geltenden Ordnungsvorstellungen getragen und tatsächlich gelebt werden 46 ». Der Heterozentrismus, d.h. die Normierungen bezüglich der Kategorien Geschlecht – Sexualität - Lebensform 47 und die Kategorien Geschlecht und Sexualität in ihrer binären Anordnung, demzufolge angenommen wird, daß ein weiblicher Körper zwangsläufig mit einer weiblichen Identität übereinstimmt und die sexuelle Begierde auf den Mann gerichtet sein kann, werden nicht nur in diesen drei Romanen u. a. durch die Studien von Judith Butler in Frage gestellt (Butler, 1991 ; 1995). Obwohl von der heterosexuellen Norm ausgehend vom sozialen Umfeld angenommen wird, daß ein Mädchen sich sexuell nur für Jungen zu interessieren vermag, werden die Leser durch die Beziehung der Protagonistinnen zu Leonie, Camilla und Enza mit der gleichgeschlechtlichen Liebe konfrontiert.

Im Jugendtreffpunkt für Lesben und Schwule wird gleichgeschlechtliche Liebe als etwas « Normales » wahrgenommen :

 

Ehe ich mich versehe, ist die Knutscherei vorbei und ich hab die ganze Zeit volle Pulle hingeglotzt. Aber so hab ich das ja auch noch nie gesehen. Nicht so echt. Nicht so nah. Und es kommt mir schon etwas komisch vor. Aber die anderen hier scheinen gar nichts dabei zu finden. Es ist so, als ob meine Klassenkameradin Petra ihren Freund Max küßt. Ganz normal eben  48.

 

Femkes Bemerkung reflektiert, daß in diesem Jugendclub, der einen offenen Raum für alle Jugendlichen bietet, gleichgeschlechtliche Liebe als « normal » gilt. Dennoch wird « Lesbischsein » bei Cornelia Funke und Mirjam Müntefering mit der Krankheit in Verbindung gebracht : « Ist doch kein Drama, wenn die denken, daß ich lesbisch bin. Schließlich ist Lesbischsein doch keine ansteckende Krankheit, oder 49 ? » Auch wenn letztendlich klargestellt wird, daß es sich dabei um keine Krankheit handelt, verweist der Gebrauch des Begriffes « Krankheit » im Zusammenhang mit gleichgeschlechtlicher Liebe deutlich auf Diskurse der Vergangenheit, denn Lebensformen, die von der herkömmlichen Kernfamilie abweichen und bis dato als unkonventionell eingestuft wurden, beispielsweise Einelternfamilien, Alleinlebende mit und ohne feste Partnerschaft, living-apart-together-Beziehungen, Menschen, die keine Lebensgemeinschaft eingehen wollen, sowie gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen erscheinen verbreitet. In ihrer Jugendbuchreihe Die wilden Hühner und die Liebe stellt Cornelia Funke vielfältige Lebensweisen vor und greift somit die Vielfalt der Familienkonstellationen der heutigen Gesellschaft auf : ob allein erziehende Mütter, geschiedene Eltern oder getrennt lebende Eltern, verschiedenste Elternhaus- und Familienkonstellationen sind da vertreten. Sowohl bei ihr als auch bei Mirjam Müntefering (Müntefering, 2003 ; 2004) und Kristina Dunker (Dunker, 1999) werden heranwachsende Romanhelden geschildert, die ihren eigenen Lebensentwurf entwerfen und bezüglich der Wahl der Lebensweise gesellschaftlich übliche Normen nicht einhalten.

Ihre Romane gewähren den Hauptgestalten eine große Bandbreite an Wahlmöglichkeiten, um sich auszuprobieren und eine individuell ansprechende Lebenskonzeption auszuwählen. Jedoch sind diese Wahlmöglichkeiten häufig nur scheinbar frei : sie werden durch « unbewußte Prozesse der Identitätskonstitution, biographische Einflüsse, Gelegenheitsstrukturen und Kontingenzen » und gesellschaftliche Normen beeinflußt 50. Untersuchungsgegenstände des zweiten Teils vorliegender Analyse sind die lesbische Orientierung und Geschlechtsidentität der Heldinnen, die nicht der Heteronormativität entspricht und die Darstellung ihres fiktionalen « Coming-Outs » in unserem Textkorpus. In einer als heterozentrisch dargestellten Umgebung fragen sich die adoleszenten weiblichen Figuren, inwiefern ihre offensichtlich den heterozentrischen Vorstellungen widersprechende Gefühle für Gleichgeschlechtliche « normal » sind und wie sie sich durch ihren Verstoß gegen gesellschaftlich normative Rollen gegen ihre feindliche Umgebung zu behaupten vermögen. Die Textuntersuchungen sollen klären, mit welchen inhaltlichen Konzepten und Darstellungsformen das « Coming-out » in den Texten, welche das Hauptfeld dieser Untersuchung bilden, literarisch umgesetzt wird.

 

« Ich und lesbisch ? Bekloppte Idee  51 ! »

« We are readers of each other, and we are characters in each other’s narratives 52 […] ». Donald Hall versteht Identität als Narration, die jeder von sich selbst anfertigt und die von anderen lesbar wird. Auf dieser Basis untersuchen wir, wie die Geschlechtszugehörigkeit und die Identität der Jugendlichen in der Kinder- und Jugendliteratur sich unter erschwerten Bedingungen formen muß. Die Autorinnen Cornelia Funke (Funke, 2003), Mirjam Müntefering (Müntefering, 2004 ; 2003), Elisabeth Etz (Etz, 2015) und Kristina Dunker (Dunker, 1999) zeigen, wie diese Jugendlichen sich in ihrer heterosexuell geprägten Umgebung bewußt werden, anders zu sein und sich in einem « Spannungsverhältnis zwischen Individuell- und Normal-sein-Wollen 53 » befinden. Die Dramatik der Romane liegt sowohl im Erkennen der Mädchen lesbisch zu sein, als auch darin von den anderen als solche erkannt zu werden, denn gleichgeschlechtliche Liebe wird von anderen Romangestalten noch als eine Abweichung von der gesellschaftlichen Norm empfunden. Als Caro sich im Buchladen in der schwullesbischen Bücherecke umsieht, ist ihr angst und bange, dabei beobachtet zu werden, von den anderen Kunden als Lesbe eingeordnet und kategorisiert zu werden. Ähnlich trauen sich die Mädchen bei Müntefering nicht, sich nach der Straße zu erkundigen, in welcher sich der Jugendtreff befindet : Scham und Peinlichkeit, Angst vor dem « Andersein » und von den anderen als Lesben taxiert zu werden, kommen hier zum Ausdruck : « Ich weiß nicht, warum ich mich dabei ein bißchen schäme, komme mir irgendwie blöd vor, obwohl das natürlich Unsinn ist. Schließlich kann ich lesen, was ich will und wenn Thilo solche Bücher emanzig finden sollte, ist mir das doch egal 54 ».

Für Wilma und Leonie (Funke, 2003), Caro (Dunker, 1999), Femke (Müntefering, 2004) und Franziska (Müntefering, 2003) gilt es nicht nur sich gegen ihre feindliche Umgebung zu behaupten und mit gestärkter Selbstsicherheit aus ihren Prüfungen hervorzugehen, sondern sich zu dieser gleichgeschlechtlichen Liebe zu bekennen. Auch Franziska zögert, sich als lesbisch zu bezeichnen, denn « es steckt einen so in eine Schublade 55 ». Das « Lesbischsein » wird umschrieben und nicht direkt angesprochen. Franziska träumt von Alex‘ Brüsten 56 und Femke kann ihre Zuneigung für Camilla nicht richtig einordnen :

 

Es ist eher so, daß mich die Augen des Mädchens ganz schwindelig machen. Diese braunen Augen sehen mich den ganzen Weg von der letzten Stuhlreihe bis hier vorne bei uns unentwegt an. Keine Ahnung, warum mir so komisch wird im Kopf. Ich weiß nur, daß ich plötzlich total verwirrt bin  57.

Es war ein Schock. Ja, ein richtiger Schock, der mir in alle Glieder gefahren ist. Und das nur, weil ich so unerwartet in ihre Augen gesehen habe  58.

 

Sie ist das erste Mal verliebt und sexuell gänzlich unerfahren, sei es mit Jungen oder Mädchen. Mit ihren Eltern, die von der Heterosexualität ihres Kindes ausgehen, hat sie das Thema der gleichgeschlechtlichen bislang noch nicht angeschnitten : « Sie und ich haben noch nie darüber gesprochen. Darüber, wie das ist, wenn Mädchen sich in Mädchen verlieben. Wieso auch ? Ich schätze mal, daß sie nicht im Traum darauf kommen würde, daß gerade ihre Tochter sich momentan mit solchen Gefühlen herumschlagen könnte 59. » Obwohl Femke sich sehr schnell eingesteht, daß sie in Camilla verliebt ist, benennt sie es jedoch nicht als « Lesbischsein » :

 

Ach du dicke Backe. Was reden wir denn bloß? Camilla ist ein Mädchen! Und ich auch! Klar weiß ich, daß Mädchen sich auch in Mädchen verlieben können. Aber ehrlich gesagt hätte ich nie gedacht, daß es einer von uns dreien mal passieren würde. Und daß ich diejenige sein könnte, hätte ich erst recht nicht gedacht  60.

 

Femke kann weder einordnen, was mit ihr geschehen ist, noch wie dieses « Andersein » von ihrem Umfeld aufgenommen werden könnte. Die in ihrer sexuellen Orientierung und Identität noch nicht gefestigte Anna lernt auf der Silvesterparty Mona kennen, in der sie weit mehr als eine platonische Freundin gefunden hat. Anna ist sich da aber noch nicht im Klaren über ihre sexuelle Orientierung. Dennoch läßt ihr Wunsch, « ihr so gern über die Haare streichen oder über die Schulter 61 », erahnen, daß sie in Mona weit mehr sieht, als nur eine Kameradin. Sie reflektiert ihre eigenen Gefühle und Reaktionen nicht, sondern ausschließlich Monas sexuelle Orientierung :

 

Steht Mona auf den ?

Steht Mona überhaupt auf Männer ?

So was kann man ja nicht automatisch annehmen, hab ich gehört.

Aber woran erkenne ich das  62 ?

 

Monas Homosexualität bringt Anna erst viel später mit ihrer eigenen sexuellen Orientierung in Verbindung als sie sich küssen :

 

Sie grinst. Und dann beugt sie sich zu mir, ohne Vorwarnung. Alles beginnt sich zu drehen, um sie, um mich. Ich spüre ihre Lippen auf den meinen. Vor Schreck zucke ich fast zurück. « Mona küßt dich gerade », melden meine Synapsen. « Du küßt Mona. Ihr küßt einander »  63.

 

Im Text beschreibt sie, wie sehr sie in diesem Augenblick genießt, was da gerade zwischen ihnen passiert. Dennoch ist die Frage nach ihrer sexuellen Orientierung und sexuellen Identität nicht geklärt und sie vermutet bisexuell zu sein :

 

« Vielleicht bin ich bisexuell ? »

« Bisexuell geht nur, wenn man Sex hat. Hört man ja schon im Wort. Hast du Sex ? »

« Gilt Küssen ? », will ich wissen,

Isabel schüttelt den Kopf. « Küssen ist Küssen. Sex ist Sex »  64.

 

Anna würde ihre sexuelle Orientierung, die sie hier selbst hinterfragt, gern festlegen. Die von ihr vorgeschlagene Bezeichnung wird jedoch sofort von Isabel in Zusammenhang mit sexueller Aktivität gebracht. Wie Anna lebt auch Caro in einem heterosexuellen Umfeld, wurde bis dahin nicht mit der gleichgeschlechtlichen Liebe konfrontiert und hatte sich diesem Thema noch nicht auseinandergesetzt : « Über Homosexualität hab ich eigentlich noch nie nachgedacht 65 ». Nun quält sie sich mit der Frage, ob sie sich vorstellen könnte, sich in eine Frau zu verlieben 66 :

 

Was ? Was ist mit dir los, Carolina ? […] Ich kneife die Augen zu, bekomme auf einmal ein rasendes Kopfweh, es fühlt sich an, als sei ein Tiger in meinem Kopf eingesperrt, liefe im Käfig hin und her, tap, tap, tap linksrum-rechtsrum […] ich fang an zu zittern […] Hilfe ich bin krank […] das Tuten der Tiger, die Tränen, Kopfschmerzen, Chaos-ich muß in mein Bett und unter die Decke aber schnell  67.

 

Dieser in ihrem Kopf eingesperrte Tiger, der für Wildheit und Aktivität steht, spiegelt das Durcheinander ihrer Gedanken, ihre eingesperrte Begierde und Leidenschaft wider. Auch in einer späteren Begebenheit wünscht sie wie hier vor der Situation zu fliehen und für ein Jahr nach Brasilien zu reisen. Nach diesen Fluchtgedanken ins Bett und ins ferne Ausland hinterfragt sie dennoch ihr Begehren, welches sie immer nicht fähig ist, zuzulassen : « Ich bin einfach zu feige ihr die Wahrheit zu sagen, aber was ist auch schon die Wahrheit, doch wohl nicht, daß ich in sie verliebt bin, nein, das bilde ich mir ja nur ein, ganz sicher ist es nicht so. 68 » « Ich und lesbisch ? Bekloppte Idee 69 ! » Genau wie Femke hat auch sie hat große Mühe sich einzugestehen, daß sie in ein Mädchen verliebt ist : « […] ui, was hab ich nur jetzt wieder für ein Flattern in der Brust. Ich mache die Augen zu, stelle mir vor, in meinem Herzen wäre ein kleiner Vogel eingesperrt, eine Amsel, die mit den Flügeln schlägt und rausfliegen will in den weiten Himmel 70 ». Ihre innere Zerrissenheit und ihre schwankenden Gefühle werden bildhaft dargestellt : der eingesperrte Vogel ist sie selbst, da sie sich nicht traut, ihre alten Verbindungen zu lösen und offen – und öffentlich – zu dieser Liebe zu stehen, über die sie ja selbst nicht ganz vorurteilsfrei denkt. Sie möchte im übertragenen Sinne « rausfliegen » und dem Käfig der sie noch gefangenhaltenden gesellschaftlichen heterosexuellen Normen, Werten und Grenzen entfliehen. Obwohl sie sich davon zu überzeugen versucht, daß sie glücklich und zufrieden ist, wie sie jetzt lebt, sind ihre Gefühle und der Wirrwarr in ihrem Kopf, Bauch und Herzen völlig anderer Meinung : « Jeden Tag sage ich mir beim Aufstehen laut: Heute denkst du mal nicht an Enza !!, und beim Zubettgehen : Ab morgen denkst du aber wirklich nicht mehr an Enza ! Das ist verrückt, nicht  71 ? » Caro bezeichnet ihre Situation als verrückt und fühlt sich dabei zweifelsohne « ver-rückt », d.h. daß sie sich darüber im Klaren ist, daß sie aus der Reihe tanzt und sich nicht in der Norm bewegt.

Das « interne Coming-out » als wichtiges Moment bei der Akzeptanz der eigenen homosexuellen Identität spielt auch in Die wilden Hühner und Alles nach Plan eine vordergründige Rolle. Wilma, die sich damit abmühte, in die heterosexuelle Norm zu passen, konnte ihr gleichgeschlechtliches Begehren nicht sofort annehmen : « ich hab’s versucht wirklich versucht. Ich hab sogar diesen Knallkopf aus der Parallelklasse geküßt, den, den alle so toll finden 72 ». Anna gesteht ihrer Freundin Isabel, daß sie meint, sich in Mona verliebt zu haben 73. Trotz dieses Ansatzes ihres « externen Outings » zweifelt Anna immer noch an ihrer sexuellen Identität und daran, wirklich in Mona verliebt zu sein. Nichts desto trotz freut sie sich über den Schritt, sich « theoretisch » extern geoutet zu haben :

 

Immerhin habe ich mich geoutet, das ist toll. Das ist gut, das ist perfekt.

Das Problem ist nur, daß ich nicht weiß, ob ich die Wahrheit gesagt habe.

Ich wäre einfach so gerne wie sie. Möchte sie ständig in der Nähe haben, ihre Stimme hören, ihr Lachen. Doch, ich muß verknallt sein. So ist das doch, oder ? Zumindest ist das, was ich Isabel gerade erzählt habe, näher an der Wahrheit dran als alles andere  74.

 

Anna scheint sich noch nicht auf eine Definition ihrer sexuellen Orientierung festlegen zu können und ordnet sich schließlich der Kategorie der Polyamorie zu 75, die allerdings nichts mit sexueller Identität zu tun hat und bei der alle sexuellen Orientierungen vorkommen können. Somit ist immer noch nicht geklärt, ob Anna heterosexuell, homosexuell oder bisexuell ist. Anna ist nicht fähig, ihre Gefühle für Mona und ihren Freund Ivan zu benennen und zu klären, ob sie etwa für freundschaftliche Gefühle oder gar weit mehr für den einen oder anderen empfindet. Da sie weder mit Mona noch mit Ivan eine sexuelle Beziehung führt, kann hier keineswegs von Polyamorie die Rede sein. Anna steckt noch in einem Entfaltungsprozeß, in dem die Entwicklung sowohl zu einer heterosexuellen als auch zu einer homosexuellen Orientierung offenbleibt. Auch eine bisexuelle Orientierung wäre denkbar.

Tamara Bachs und Doris Meißner-Johannknechts (Amor kam in Leinenschuhen, 1996) Romanfiguren Johanna und Franziska befinden sich ebenfalls auf dem Weg « zur Ich-Findung und zur Neupositionnierung des eigenen Selbst 76 » und erleben eine « Phase des zähen Gleitens in einer gallertartigen Warteschleife 77 ». Nach einigen Wochen zarter Annäherung kommen sich Johanna und Franziska näher ; der erste Kuß bringt Miriam völlig durcheinander : « Ich frag mich, ob das alles passiert ist, der Kuß, die Küsse 78 ». Ihre Gefühle für Laura entwickeln sich « in eruptiven Schüben und gleichzeitig zart und tastend 79 ». Sie verspüren Unsicherheit und Verwirrung und fragen sich, ob sie lesbisch sind 80. « Das Sich-bewußt-Werden in puncto sexueller Orientierung erscheint bei ihnen ganz einfach als Bestandteil eines schmerzhaften, aber notwendigen Reifeprozesses, der die beiden auf höchste Höhen führt und in tiefste Tiefen stürzt 81 ». « Was ist das : dieses Zu-sich-selber-Kommen des Menschen, dieser nicht enden wollende Weg zu sich selbst 82 ? » fragen sich die Mädchen, deren Gefühlswelt auf dem Kopf steht als sie im Zuge ihrer Identitätsfindung auch ihre sexuellen Neigungen entdecken 83. Sowohl Johanna als auch Miriam haben gelernt, ihr « Anderssein“ zu akzeptieren und Esther Kochtes Feststellung – „ […] ein Sichbehaupten gegenüber Leuten, die das mit der Liebe etwas konventioneller sehen 84 » – trifft auf alle Protagonistinnen der Korpustexte zu.

Elisabeth Etz hat wie Mirjam Müntefering, Cornelia Funke und Kristina Dunker, Tamara Bach und Doris Meißner-Johannknecht das Thema der Suche nach der eigenen sexuellen Identität aufgegriffen, mit welchem sich viele Leser in Annas Alter auseinandersetzen. Für Anna selbst stellt es kein Problem dar, ihre sexuelle Orientierung nicht benennen zu können im Gegensatz zu ihrer Umwelt, die sie auffordert, endlich eine Bezeichnung dafür festzulegen. Heterosexualität dagegen muß weder erklärt noch bezeichnet werden. Alles dreht sich um die substantiellen Fragen : « Wer bin ich? Wer werde ich sein 85 ? » « Werde, der du bist 86! » : mit diesen Worten spornte einst Friedrich Nietzsche die Menschen zur Selbstverwirklichung an. Mit dem Prozeß der Personwerdung, in der jeder einzelne seine Anlagen entfaltet, wird auch ein Fokus auf das « Wahre Selbst », d. h. die authentische Identität gelegt.

 

Männlich-weiblich-zwischen oder « das Gefühl, ein regelrechtes Doppelleben zu führen 87 »

Erst seit einigen Jahren bröckelt das „Schweigegebot“, unter welches intersexuelle Jugendliche auch in der Literatur gestellt wurden. In naher Zukunft wird die Mutter eines Kindergartenkindes auf die Frage, ob das Kind denn nun Mädchen oder Junge sei, wie Jills Mutter 88 sicherlich antworten, daß sie es noch nicht wisse und es ja vielleicht es ja beides oder keins von beidem sein könne. Christine Fehérs Jugendroman greift die altersgerechte Frage der Heranwachsenden rund um Körper sowie die Unterschiede zwischen « sozialem » und « biologischem » Geschlecht auf, verdeutlicht wie sich mit beginnender Pubertät der Körper sichtbar uneindeutig entwickelt und zeigt wie mit Gendervarianz umgegangen wird.

Jona, die Hauptgestalt des Romans, ist intersexuell, lebt eigentlich als Junge, der dennoch gern auch seine weibliche Seite zeigt, die er immer wieder öffentlich als Joana auslebt. Selbstbewußt steht Jona zu sich selbst, akzeptiert sich so wie er ist – er wurde zugleich mit männlichen und weiblichen Geschlechtsmerkmalen geboren – und lebt dies aus. Seine äußeren Geschlechtsorgane sahen ursprünglich weiblich aus, haben sich jedoch mit der Pubertät immer mehr zum Erscheinungsbild männlicher Geschlechtsorgane verändert. Da Jona neben einer Scheide auch sich im Körperinneren befindende Hoden hat, stellt sein geschlechtliches Erscheinungsbild von Geburt an, hinsichtlich der Chromosomen, der Keimdrüsen, der Hormonproduktion und der Körperform nicht nur männlich oder nur weiblich ausgeprägt ist, eine Mischung dar ; Die Fachwelt spricht in diesem Fall von « Middlesex », Intersexualität oder « Disorders of Sex Development » (Störungen der Geschlechtsentwicklung). Rückblenden im Text, in denen von Jona als « sie » die Rede ist, deuten an, daß er als Kleinkind bis zum zwölften Geburtstag als Mädchen gelebt hat 89. Mit der Pubertät und dem Wachsen der männlichen Geschlechtsorgane 90 hat dann der Wechsel zu einem Leben als Junge stattgefunden. Weil seine Eltern sich bei seiner Geburt gegen eine operative Geschlechtsangleichung entschieden haben, trägt Jona nun die Anlagen beider Geschlechter in sich 91 und ist sich darüber bewußt, daß er hinsichtlich des biologischen Geschlechts anders ist, als die Mitschüler seines Alters. Seine Eltern gingen ihm gegenüber stets sehr offen mit dem Thema Intersexualität um und erklärten ihm seine Besonderheit bezüglich des Geschlechts : « Die meisten Kinder sind entweder Jungs oder Mädchen. Aber ganz, ganz wenige sind eigentlich beides. Zu diesen ganz wenigen gehörst du, Jona. Das ist nicht schlimm, nur eben selten. Und interessant 92 ». Daher stellte es für Jona kein Problem dar, sich nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zuordnen zu können : « Aber ich fühle mich eben immer noch als beides. Mal mehr wie ein Junge, mal mehr wie ein Mädchen. Joana statt Jona, Jona statt Joana. So bin ich eben. Warum sollte ich mich verstellen 93 ? » Jona wechselt gerne zwischen den beiden biologischen Geschlechtern hin und her, kann sich mit beiden identifizieren, was darauf hindeutet, daß er eigentlich genderqueer sein könnte. Dies steht nicht unbedingt im Zusammenhang mit seiner auf körperlicher Ebene stattfindende Intersexualität, kann aber von dieser durchaus beeinflußt sein. Er mag sich nicht zwischen den beiden Geschlechtern entscheiden und stellt, als er beim Schuljubiläum die Chance bekommt den Festakt zu moderieren, unter Beweis, was er kann. Außerdem kann er sich zu diesem Anlaß so zeigen, wie er wirklich ist, indem er abwechselnd als Junge und als Mädchen moderiert : « Ich will einfach nur akzeptiert werden. So, wie ich bin, und weil ich so bin. Mich nicht verstecken müssen. Weder meine männliche noch meine weibliche Seite 94 ». Jona findet Gefallen daran, als Joana, d.h. als Mädchen die Schule zu besuchen 95 und zieht sogar ein weiteres Leben als Mädchen in Erwägung : « Nur weil ich mich in den letzten Jahren mehr zum Jungen entwickelt habe, heißt dies noch lange nicht, daß ich auch einer bin  96 ». Dennoch verschafft diese Bemerkung keinen Aufschluß darüber wie sich seine Geschlechtsidentität weiterentwickeln wird, die weder jetzt noch am Ende des Romans gefestigt ist. Seine sexuelle Identität wird in einem Gespräch mit seinem Vater angesprochen : « Zu wem fühlst du dich denn hingezogen ?, fragt er [Jonas Vater]. Zu Mädchen oder zu Jungs ? Keine Ahnung, antworte ich. Ich war noch nie verliebt. Hübsch finde ich viele. Mia, Leon und auch ein paar andere aus den anderen Klassen 97 ». Die Zuordnung gelingt ihm weder auf biologischer Ebene, noch auf jener der Identität. Erst als er sich in Leon verliebt, hilft es ihm dabei, sich seiner sexuellen Orientierung bewußter zu werden und seine sexuelle Identität präziser zu definieren : « Die Mädels wollen einen wie mich nicht als Freund, aber ich will sie auch nicht. Mädchen sind für mich Kumpels, Schwestern, so wie Mia. Kribbeln im Bauch spüre ich, wenn ich an Jungs denke. Das weiß ich jetzt. Wegen Leon  98 ».

Jona versuchet die Harmonisierung von innerem Empfinden und äußerem Erleben herzustellen und das Ausleben seines « Wahren Selbst » zu ermöglichen. Die Auseinandersetzung und die Selbstfindung ist für ihn als intersexueller Mensch ein langer Prozeß, in dem er sich mit der Norm der Geschlechter in « männlich » und « weiblich » auseinandersetzt. Er sieht sich mit der Aufgabe konfrontiert, ein eigenes Selbstverständnis finden zu müssen, für das es in der Gesellschaft bislang kein Vorbild gibt, weil da die konventionellen Rollenvorstellungen von Mann und Frau zu kurz greifen und das Geschlecht anhand von oberflächlichen Orientierungsmerkmalen eingeschätzt wird. Das äußere Erscheinungsbild ist trügerisch, denn bei Jona stimmt das äußere Geschlecht nicht mit dem inneren Geschlecht überein. Er geht offen mit seiner Besonderheit um und hadert keineswegs mit seinem eigenen Körper und seiner abweichenden Identitätsbildung.

Figuren wie Jona, die sich durch Nicht-Eindeutigkeit auszeichnen, sind noch relativ selten in der zeitgenössischen deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur, obwohl sie – oder gerade weil sie – völlig neue Fragen aufwerfen und die in unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts immer noch bestehenden Ängste vor Queerness spiegeln. Die sexuelle Identität Jonas kommt in diesem Roman auch deshalb zur Sprache, weil er sich in der Pubertät befindet und wie alle Jugendlichen in diesem Lebensabschnitt von den körperlichen und psychischen Veränderungen überrumpelt wird. Sexuelle Orientierung und Identität stellen in dieser Entwicklungsphase für ihn als Heranwachsenden genau wie für die pubertierenden Leser, die sich genau wie die Romanfigur mit den körperlichen Veränderungen auseinandersetzen und sich ihren Platz in der Welt suchen, ein zentrales Thema dar. Der Text hat daher mit Jona eine queere Hauptfigur, die welche die Intersexualität enttabuisiert und als eine der Möglichkeiten dargestellt, wie sich das biologische Geschlecht eines Heranwachsenden entwickeln kann. Daß die Geschlechtsidentität der intersexuellen Romangestalt angesprochen wird, vermittelt den jugendlichen Lesern, daß « Middlesex » kein gesellschaftliches Tabu mehr darstellt. Dazu schrieb u.a. Eva Calvi :

 

No monster, nor marvels, […], people born intersexed have given the rest of the world an opportunity to think more about the odd significance we give to gender, about the elusive nature of truth, about the understandable, sometimes dangerous human yearning for simplicity - and we might, in return, offer them medical care only when they need it, and a little common sense and civilized embrace when they don’t  99.

 

In Christine Fehérs Roman wird dennoch deutlich, daß das Leben als Transgender-Jugendliche(r) alles andere als einfach ist und Unwissenheit Anfeindungen mit sich zieht. Jona, der sich der pubertären Phase des Umbruchs und auf der Suche nach der eigenen Identität befindet, geht bemerkenswert mit seiner Sexualdifferenzierungsstörung um. Er probiert verschiedene Geschlechtsidentitäten und Unsicherheiten aus, wobei er immer zu seinem Körper und zu sich selbst steht, seine Intersexualität akzeptiert und einen Weg findet, sich damit zu identifizieren. Als er mit fünfzehn Gefühle für Leon verspürt, bereitet jedoch ihm seine Geschlechtsidentität erstmals Schwierigkeiten. Er schafft es aber letztendlich, sich zu sich selbst zu bekennen.

Jonas « Coming-Out » kann genauso wie das der Protagonistinnen von Elisabeth Etz, Mirjam Müntefering, Cornelia Funke, Kristina Dunker, Tamara Bach und Doris Meißner-Johannknecht in zwei Phasen unterteilt werden : das « innere Coming-Out », d.h. sich seiner sexuellen Orientierung bewußt zu werden und diese zu akzeptieren ; zum anderen das « äußere Coming-Out », d.h. sich seinen Mitmenschen als Lesbe oder Intersexuelle(r) mitzuteilen. In den Korpustexten gehen dem « inneren Coming-out » Unsicherheit, Angst und sogar bis zu einem gewissen Grad Verdrängung voran. Alle Romanfiguren sind sich dessen bewußt, daß sie sich klar außerhalb der heterosexuellen Norm bewegen. Bevor sie bereit sind, sich im Familien-, Bekannten- und Freundeskreis zu « outen », wird dieses « Andersein » indirekt sowohl durch ihr Verhalten als auch durch ihre Körpersprache für Außenstehende sichtbar und führt zu einem ungewollten, unfreiwilligen und nichtsprachlichem äußeren « Coming-out ». In diesem langwierigen und mühsamen Verlauf des « inneren Coming-out », in dem sie sich befinden und sich verlieben, tritt daher fast gleichzeitig das zweite, externe « Coming-out » auf. Wie reagiert ihre Umwelt auf diesen Prozeß, der eine innere Wahrheit nach außen trägt und versucht gelebte und gefühlte Identität der Protagonistinen in Einklang zu bringen ?

 

« Könntet ihr aufhören, mich so anzuglotzen 100? »

1990 löste der erste « schwule » Kuß in der ARD-TV-Serie Lindenstraße einen Skandal aus. Seitdem setzte eine gewisse « Normalisierung » von Homosexualität in der deutschen Gesellschaft ein und kaum eine TV-Soap oder ein Talk zu Beziehungsthemen erwähnt Liebe unter Gleichen. Parallel zu diesem medialen Fortschritt können in der Kinder- und Jugendliteratur gleichgeschlechtliche Paare nicht immer mit der Akzeptanz seitens der Freunde bzw. der Familie rechnen. Ihnen gegenüber gibt es nach wie vor Vorbehalte und ihr « externes Coming-out » schlägt immer noch große Wellen in diesen Personenkreisen. Oft geht die Toleranz wie bei Cornelia Funkes Hauptgestalt Sprotte nicht weit. Das erste Treffen mit ihr ist für Wilma und Leonie mit Verlegenheit und gar mit Angst besetzt : « Noch nie hatte Sprotte jemanden so kreideweiß werden sehen […] Leonie schob den Kopf durch die Tür und war fast ebenso blaß wie Wilma 101 ». Beide Empfindungen beruhen einerseits auf dem Gefühl, daß ihre lesbische Identität aufgedeckt wurde und andererseits auf der Ungewißheit, wie ihre Freunde auf ihr gleichgeschlechtliches Paar reagieren werden. Anstatt das Coming-out als einen Befreiungsschlag zu empfinden und diese Hürde mit Zuversicht nehmen zu können, wird Wilmas und Leonies sexuelle Identität von Sprotte als Abweichung von ihrer eigenen heterosexuellen Norm wahrgenommen. Ihre allererste Begegnung mit gleichgeschlechtlicher Liebe findet hier statt und als ihr einleuchtet, weshalb ihre beiden Freundinnen verlegen sind, ist sie schockiert und irritiert. Im Gegensatz zu Fred, dessen Tante lesbisch ist, ist sie weder mit gleichgeschlechtlichen Lebensformen vertraut, noch gewillt, ihre starre Geschlechterordnung infrage zu stellen : « Sprotte schüttelt ungläubig den Kopf. Sie hätte das Ganze gern ebenso gelassen aufgenommen wie Fred, doch das Herz schlug ihr weiter bis zum Hals 102 ». Der Großteil ihrer Verwirrung rührt daher eher aus Unwissen als aus purer Ablehnung im Gegensatz zu einigen anderen « wilden Hühnern » : nicht alle in dem näheren Umfeld Wilmas zeigen sich. Melanie zum Beispiel ist derart verstört, daß sie nicht nur die Bande verlassen, sondern auch die anderen Mitglieder stark unter Druck setzt : « Ich komm nicht wieder her ! […] Wenn sie weiter kommt 103 ! » Die ebenfalls erschütterte Trude verkörpert durch ihre bissigen Bemerkungen typisches heterozentristisches Verhalten. Ihre naiv verpackte Frage, wie sich zwei Frauen wohl küssen können, spiegelt ihre Voreingenommenheit, ihre Arroganz und ihre Unverfrorenheit, intime Fragen zu stellen, die sie sich bei einem heterosexuellen Paar sicher niemals erlauben würde. Frieda schreitet sehr gelungen ein und weist sie in ihre Schranken zurück : « Wenn du Sprotte siehst, stellst du dir da auch jedes Mal vor, wie Fred und sie rumknutschen 104 ? » Cora möchte sich nach ihrem « internen Coming-out » mit ihrer Freundin Regina über ihre Gefühle für Enza austauschen. Jedoch kommt es zu einem Mißverständnis, da diese sofort annimmt, daß Caros Liebe einem Jungen gilt : « Ich hab mich total verknallt !, platze ich heraus. Echt ? […] Ich kann nur noch an, an, an….[…] an den anderen denken ? […] Los erzähl mal ! Wie sieht er aus 105 ? » Nicht nur, daß sie es damit Cora schwermacht frei zu erzählen, sie entzieht ihr ebenfalls die Möglichkeit für ihr öffentliches Outing. Genau wie die anderen Protagonistinnen ist auch Franziska vor dem « externen Coming-out » und den sich eventuell für sie daraus ergebenden Konsequenzen bange, was die Hemmschwelle vor ihrem Coming-out nicht zu senken vermag :

 

Mama. Und Papa. Hm. Darüber habe ich schon damals bei Mercedes nachgedacht. Aber auch damals habe ich es ihnen nicht gesagt. Weil ich geglaubt habe, daß es mir nicht noch mal passiert. Ich habe geglaubt, daß es einmalig ist. Nein, ich habe es nicht wirklich geglaubt, sondern wohl eher gehofft. Gehofft? Wieso eigentlich? Es fühlt sich so klasse an! Wieso habe ich bloß gehofft, sowas nie zu erleben? Irgendwie bekloppt  106.

 

Das Erkennen ihres Lesbischseins zog einen Prozeß mit sich, in dem Franziska lernen mußte damit umzugehen und zu akzeptieren, wie sie wirklich ist. Nach ihrem « inneren Outing » sieht sie keinen triftigen Grund mehr, ihre sexuelle Orientierung voll und nicht mehr verborgen auszuleben, abgesehen von der Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung.

Iris und Dunja unterstützen Femke (Müntefering, 2004) und suchen gemeinsam mit ihr Jugendtreffpunkte für Lesben und Schwule auf. Annas Homo- oder Bisexualität (Etz, 2015) stößt ebenfalls auf Toleranz. Nicht heterosexuell zu sein, scheint für ihren Familien- und Bekanntenkreis nicht relevant zu sein. Demzufolge erntet sie keine negativen Reaktionen wegen ihrer sexuellen Orientierung und mag für heranwachsende Leser als positives Beispiel für ein gelungenes Coming-out gelten und deutet auch darauf hin, daß Homosexualität in liberalen westlichen Gesellschaften immer weniger ein Motiv für Marginalisierung und Diskriminierung darstellt und daß sich allmählich ein gleichberechtigter Umgang mit gleichgeschlechtlichen Paaren durchsetzt. Cornelia Funkes Romangestalt Frieda stellt klar, Wilmas und Leonies sexuelle Orientierung Außenstehende nichts angeht, denn sie brauchen sich, genauso wenig wie Heterosexuelle, zu erklären : « Ich mein, das geht uns nichts an, beendete Frieda Sprottes Satz. Schließlich fragen wir Melli auch nicht, was sie gerade mit welchem Jungen macht 107 ». Sie plädiert für eine Gleichbehandlung und Gleichstellung der beiden und gegen die Diskriminierung der LSBTI-Community-Angehörigen : « Oder steht […] da irgendwo : Wilde Hühner dürfen sich nur in Jungs verlieben ? Vielleicht legen wir auch noch die Haarfarbe fest 108 ? »

Bei Tamara Bach und Doris Meißner-Johannknecht betrachten sich die Mädchen nicht als Lesben, sondern als verliebte Jugendliche wie ihre gleichaltrigen Freunde und Bekannten. Sie machen daher kein ähnliches « Coming-Out » durch wie die anderen Romangestalten der in unserer Arbeit besprochenen Texte, dennoch bleiben die Reaktionen auf ihre sexuelle Orientierung nicht aus. Franziskas jüngerer Bruder äußert sich kindlich-naiv zu dieser Verliebtheit : « Er grinst, hält sich die Hand vor den Mund, kichert und sagt : […] Gibt es das auch ? Zwei Mädchen ein Liebespaar 109 ? » Völlig unbefangen zeigen sich die Verliebten in der Öffentlichkeit 110, sei es in der Schule, im Kino oder im Museum, denn sie wollen beide « nur das leben, was alle leben, die sich lieben, mehr nicht  111 ».

Tamara Bach wies darauf hin, daß « Marsmädchen » keineswegs als « Coming-Out-Geschichte » zu verstehen sei 112. Nichtsdestotrotz reagieren einige ihrer Protagonistinnen irritiert und verunsichert und pendeln zwischen « Auf-sie-zugehen », « sich zurückziehen », « sich-nicht-blicken-lassen » und Gleichgültigkeit. Johannas Freundes- und Familienkreis reagiert eher wohlwollend auf ihre gleichgeschlechtliche Liebesziehung, abgesehen von ihren Eltern 113, deren Unverständnis das Mädchen nüchtern zur Kenntnis nimmt und kommentiert : « Interessant, was sie sich für Gedanken machen. Wirklich. Aber was hat das mit mir zu tun ? In mir ist eine tiefe Ruhe, unerschütterlich. Ich kenne meinen Weg 114 ». Bemerkenswert ist hier die Entschlossenheit Johannas, die sich auch in ihrem Entschluß äußert, sich von ihren Eltern zu lösen, als diese versuchen, ihre Liebesbeziehung zu Franziska zu unterbinden 115. Franziskas Eltern hingegen akzeptieren diese Beziehung problemlos. Positive Resonanz bekommen beide Mädchen auch von ihrem schulischen Umfeld : « Ein weiteres Paar, wie schön ! […] Und endlich mal was Neues 116 ! »

Ein weiteres positives Beispiel liefert der Roman Chrisine Fehérs, in dem Jona von vielen Freunden, Verwandten und Bekannten, die genau über seine Intersexualität Bescheid wissen, unterstützt wird. In diesem Roman wird das Thema des « dritten Geschlechts » angesprochen, welches auch heute gesellschaftlich noch nicht völlig enttabuisiert scheint. Nicht alle Reaktionen aus dem Umfeld der nicht heterosexuellen Hauptgestalten unserer Primärliteratur fallen positiv aus. Einige von ihnen erfahren auch im Freundes- bzw. Familienkreis wenig Verständnis für ihre sexuelle Orientierung. Dennoch formt sich ihre sexuelle Identität in diesen Texten, wenn auch oftmals unter erschwerten Bedingungen und der gleichgeschlechtlichen Liebe gelingt es, sich zu behaupten. Die Autorinnen schildern, wie sich die Romangestalten sich mit gestärktem Körpergefühl gegen ihre mehr oder weniger feindselige Umgebung behaupten und letztendlich gestärkt aus denen ihnen auferlegten Prüfungen hervorgehen. In den Romanen des Korpus‘ haben Jugendliche, deren sexuelle Orientierung bzw. Identität von der heteronormativen Sexualnorm abweicht, immer noch mit Rollenklischees und Vorurteilen zu kämpfen, so daß es für sie problematisch bleibt, Anerkennung und Toleranz zu finden.

 

Die Darstellung der Homosexualität im Jugendbuch ist noch ein tabuisierter Bereich. Die vergangenen Jahre haben immerhin vereinzelte Publikationen zum Thema hervorgebracht, mit  mehr oder weniger –emanzipatorischen Funktionen für homosexuelle Leser. Es bleibt zu hoffen, daß die Jugendbuchautoren/innen sich verstärkt der Homosexualität widmen, brauchen doch homosexuelle Jugendliche und ihre (seelischen) Begleiter (Eltern, Geschwister, Freunde, Lehrer, Erzieher u.a.) Bücher mit Qualität, zur eigenen schwulen Identitätsfindung bzw. zur Sensibilisierung für die (innere) Welt Homosexueller. Mit anderen Worten: Benötigt werden mehr Jugendbücher, die ,Unmögliches’ möglich werden lassen  117.

 

Sind nun 28 Jahre später Homosexualität und Intersexualität im gesellschaftlichen Kontext enttabuisiert ? In Fernsehserien treten gleichgeschlechtliche Liebespaare auf, politische Demonstrationen wie die Christopher-Street-Day-Paraden ähneln Massenspektakeln, immer mehr Schauspieler, Musiker, Politiker, usw. « outen » sich und mit dem « Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts », das seit dem 1. Oktober 2017 erlassen wurde, haben nicht Heterosexuelle die Möglichkeit, eine zivilrechtliche Ehe einzugehen. Doch wie gestaltet sich die heutige Situation der Darstellung vom sexuellen « Andersein » in der deutschsprachigen Jugendliteratur ? Bergers Wunsch nach mehr Jugendbüchern, die « Unmögliches » möglich machen, ging bislang nur mäßig in Erfüllung. Unsere Analyse zeigt einige Tendenzen auf, was die Darstellung der sexuellen Identitätsfindung betrifft. Das Lesbischsein wird zum Beispiel bei Dunker umschrieben, denn die Protagonistin Regina traut sich nicht, das Wort « lesbisch » auszusprechen. Stattdessen verwendet sie den Begriff « dingens 118 ». Tief verwurzelt scheint daher noch immer der Gedanke zu sein, daß nicht heterosexuelle Liebe etwas Verbotenes, Unmoralisches, Unnatürliches und Anormales ist. In den zur Analyse herangezogenen Werke, welche die LGBTI-Thematik und den Weg zur eigenen Identität von queeren Jugendlichen behandeln, wird spürbar, daß jedoch immer noch große Unwissenheit vorherrscht und Aufklärungsarbeit sowohl bei den Heranwachsenden als auch bei den Eltern notwendig wäre. Interessant ist ebenfalls die Tatsache, daß in mehreren Textstellen der gesellschaftliche Wunsch immer noch spürbar ist, die Figuren hinsichtlich ihrer sexuellen Orientierung bzw. ihrer Geschlechtsidentität einer offiziellen Begrifflichkeit zuzuordnen. In den deutschsprachigen Jugendliteratur müßte das eigentlich zu erreichen sein, was Mirjam Müntefering vorschwebt :

 

daß Lesben und Schwule als Protagonisten oder Nebenfiguren ganz selbstverständlich sind – ohne daß ihre Entscheidung, mit jemandem vom eigenen Geschlecht glücklich (naja, manchmal auch unglücklich …) zu sein, groß thematisiert werden muss oder gleich ein reines Lesben- oder Schwulenbuch entsteht  119.

 

  1. Anita Schilcher, Geschlechtsrollen, Familie, Freundschaft und Liebe in der Kinderliteratur der 90er Jahre. Studien zum Verhältnis von Normativität und Normalität im Kinderbuch und zur Methodik der Werteerziehung, Frankfurt am Main, Peter Lang, 2001, S. 20.
  2. Hans-Heino Ewers, Kinder- und Jugendliteraturforschung 1994/1995, Stuttgart, Metzler, 1995, S. 17.
  3. Isa Schikorsky, Kurze Geschichte der Kinder- und Jugendliteratur, Books on Demand, 2012, S. 156.
  4. Cyrus Dethloff, Jungenpaare, Mädchenpaare, Igel, Paderborn, 1995, S. 153-155.
  5. Id., S. 18-19.
  6. Marliese Arold, Einfach nur Liebe : Sandra liebt Meike, Loewe, 2008.
  7. Nadine Roth, SAMe Love. Nur mit Dir, Watt, Sternensand, 2017.
  8. Maike Stein, Wir sind unsichtbar, Hamburg, Oetinger, 2015.
  9. Heike Karen Gürtler, Mut ist der Anfang vom Glück, Stuttgart, Thienemann-Esslinger, 2016.
  10. Karen-Susan Fessel, Jenny mit O, Berlin, Querverlag, 2005.
  11. Ben Böttger, Rita Macedo, Unsa Haus und andere Geschichten, NoNo Verlag, Berlin, 2013.
  12. Doris Meissner-Johannknecht, Amor kam in Leinenschuhen, Ulm, Ravensburger, 1996 ; Tuchfühlung, Reinbeck, Rowohlt, 2001.
  13. Adriana Stern, Pias Labyrinth, Hamburg, Argument Verlag, 2003.
  14. Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot, München, Piper, 2003 ; Verknallt in Camilla !, Hamburg, Klopp, 2004.
  15. Cai Schmitz-Weicht, Hallo, wer bist denn du ?, Darmstadt, Atelier Neundreiviertel, 2012.
  16. Christine Fehér, Body. Leben im falschen Körper, Aarau, Sauerländer, 2003.
  17. Christine Nöstlinger, Der Spatz in der Hand, Weinheim, Beltz, 1974.
  18. Tamara Bach, Marsmädchen, München, dtv, 2007.
  19. Cornelia Funke, Die wilden Hühner und die Liebe, Hamburg, Neue Medien & Verlag, 2003.
  20. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, Würzburg, Arena, 1999.
  21. Der Begriff « Intersexualität » wurde im Zusammenhang mit Hermaphroditismus zum ersten Mal 1917 von Richard Goldschmidt verwendet.
  22. Jeffrey Eugenides, Middlesex, Hamburg, Rowohlt Verlag, 2003.
  23. Lilly Axster, Atalanta Läufer_in, Wien, Zaglossus Verlag, 2014.
  24. Karen-Susan Fessel, Liebe macht Anders, Berlin, Kosmos-Verlag, 2014.
  25. Rosen Ursula, Jill ist anders, Lingen, Salmo Verlag, 2015.
  26. Christine Fehér, Weil ich so bin, Hamburg, Carlsen, 2016.
  27. Vera King, Die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz, Opladen, Leske, 2002, S. 66.
  28. Id., S. 170.
  29. Id., S. 67.
  30. Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot, op. cit., S. 78.
  31. Barbara Gissrau, Die Sehnsucht der Frau nach der Frau, München, DTV, 1997, S. 36.
  32. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus – Wie Normalität produziert wird, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1997, S. 15.
  33. Ibid.
  34. Jürgen Link, « Der (un)verkrampfte Kampf des neuen Herzogs mit den Mühlen der Normalität », S. 20-34, in Margred Jäger, Siegfried Jäger, Baustellen – Beiträge zur Diskursgeschichte deutscher Gegenwart, Duisburg, DISS, 1996, S. 24.
  35. Id., S. 21.
  36. Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot, op. cit., S. 78.
  37. Jürgen Link, Versuch über den Normalismus – Wie Normalität produziert wird, op. cit., S. 21.
  38. Cornelia Funke, Die wilden Hühner und die Liebe, op. cit., S. 29.
  39. Id., S. 128.
  40. Mirjam Müntefering, Verknallt in Camilla !, op. cit., S. 27.
  41. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, Würzburg, Arena, 1999, S. 34.
  42. Id., S. 49.
  43. Jutta Hartmann, « Mit geschärftem Blick dagegen - Heteroseximus in der Schule », in Senatsverwaltung für Jugend und Familie (Hg.), Pädagogischer Kongress : Lebensformen und Sexualität, Berlin, 1993, S. 35.
  44. Günter Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, Alfred Kröner, 1972, S. 301.
  45. Jutta Hartmann, Vielfältige Lebensweisen – Eine Studie zur Dynamisierung der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform und zur Entwicklung einer kritisch-dekonstruktiven Perspektive in der Pädagogik, Berlin, TU, 2001, S. 1.
  46. Günter Hartfiel, Wörterbuch der Soziologie, op. cit., S. 301.
  47. Astrid Albrecht-Heide, Christine Holkamp, « Lebensform und Sexualität – Vielfalt quer zu patriarchalen Leitbildern », S. 20-28, in Jutta Hartmann, Lebensformen und Sexualität – Herrschaftskritische Analysen und pädagogische Perspektiven, Bielefeld, USP International, 1998, S. 21.
  48. Mirjam Müntefering, Verknallt in Camilla !, op. cit., S. 83.
  49. Id., S. 103.
  50. Jutta Hartmann, Vielfältige Lebensweisen – Eine Studie zur Dynamisierung der Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform und zur Entwicklung einer kritisch-dekonstruktiven Perspektive in der Pädagogik, op. cit., S. 1.
  51. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, op. cit., S. 98.
  52. Donald E Hall, Reading Sexualities. Hermeneutic Theory and the Future of Queer Studies, Abingdon & New York, Routledge, 2009, S. 28.
  53. Barbara Gissrau, Die Sehnsucht der Frau nach der Frau, München, DTV, 1997, S. 41.
  54. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, op. cit., S. 79.
  55. Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot, op. cit., S. 131.
  56. Id., S. 78.
  57. Mirjam Müntefering, Verknallt in Camilla !, op. cit., S. 20.
  58. Id., S. 29.
  59. Id., S. 41.
  60. Id., S. 36.
  61. Elisabeth Etz, Alles nach Plan, Wien, Zaglossus, 2015, S. 16.
  62. Id., S. 18.
  63. Id., S. 92-93.
  64. Id., S. 148.
  65. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, op. cit., S. 78.
  66. Id., S. 77.
  67. Id., S. 88.
  68. Id., S. 94.
  69. Id., S. 98.
  70. Id., S. 75.
  71. Id., S. 85.
  72. Cornelia Funke, Die wilden Hühner und die Liebe, op. cit., S. 143.
  73. Elisabeth Etz, Alles nach Plan, op. cit., S. 86.
  74. Id., S. 89.
  75. Id., S. 149.
  76. Otto Brunken, « Manchmal von einem anderen Stern. Rede zur Verleihung des Oldenburger Kinder- und Jugendliteratur-Preises 2002 an ‟Marsmädchen” », Bulletin Jugend&Literatur, 6/2003, S. 6-9, S. 6.
  77. Caroline Roeder, « Summend die Liebe inhalieren. Tamara Bachs cooles und sehnsüchtiges ‟Marsmädchen” », FAZ, 8.11.2003, S. 1.
  78. Tamara Bach, Marsmädchen, op. cit., S. 91-92.
  79. Otto Brunken, « Manchmal von einem anderen Stern. Rede zur Verleihung des Oldenburger Kinder- und Jugendliteratur-Preises 2002 an ‟Marsmädchen” », op. cit., S. 8.
  80. Tamara Bach, Marsmädchen, op. cit., S. 144.
  81. Otto Brunken, « Manchmal von einem anderen Stern. Rede zur Verleihung des Oldenburger Kinder- und Jugendliteratur-Preises 2002 an ‟Marsmädchen” », op. cit., S. 7.
  82. Doris Meissner-Johannknecht, Amor kam in Leinenschuhen, op. cit., S. 22.
  83. Tamara Bach, Marsmädchen, op. cit., S. 43 ; Doris Meissner-Johannknecht, Amor kam in Leinenschuhen, op. cit., S. 16, 27, 45, 52, 70-71, 77.
  84. Esther Kochte, « Ihre Vision kommt in Latzhose und Leinenschuhen. Doris Meissner-Johannknecht », Bulletin Jugend + Literatur1, 2000, S. 6-7, S. 6.
  85. Caroline Roeder, « Summend die Liebe inhalieren. Tamara Bachs cooles und sehnsüchtiges ‟Marsmädchen” », op. cit., S. 1.
  86. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, Leipzig, Naumann, 1889.
  87. Adriana Stern, Pias Labyrinth, Hamburg, Argument Verlag, 2003, S. 181.
  88. Ursula Rosen, Jill ist anders, Lingen, Salmo Verlag, 2015.
  89. Christine Fehér, Weil ich so bin, Hamburg, Carlsen, 2016, S. 57-61.
  90. Id., S. 60.
  91. Id., S. 10-11, 60, 80-82.
  92. Id., S. 26.
  93. Ibid.
  94. Id., S. 47.
  95. Id., S. 19, 35.
  96. Id., S. 16.
  97. Id., S. 27.
  98. Id., S. 51.
  99. Eva Calvi, Eine Überschreitung der Geschlechtergrenzen ? Intersexualität in der westlichen Gesellschaft zwischen konstruierter Nicht - Existenz, Pathologisierung und einem Aufbrechen des binären Geschlechtermodells aus gendertheoretischer Perspektive, Graz, Karl-Franzens-Universität, 2011, S. 3.
  100. Mirjam Müntefering, Verknallt in Camilla !, op. cit., S. 72.
  101. Cornelia Funke, Die wilden Hühner und die Liebe, op. cit., S. 70.
  102. Id., S. 72.
  103. Id., S. 132.
  104. Id., S. 139.
  105. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, op. cit., S. 101.
  106. Mirjam Müntefering, Flug ins Apricot, op. cit., S. 124.
  107. Cornelia Funke, Die wilden Hühner und die Liebe, op. cit., S. 113.
  108. Id., 132.
  109. Doris Meissner-Johannknecht, Amor kam in Leinenschuhen, op. cit., S. 63-64.
  110. Id., S. 80, 104-105, 108.
  111. Id., S. 103.
  112. Ralf Schweikart, « Der Mars ist so nah. Die Jugendbuchautorin Tamara Bach », Tausend und ein Buch, 4, 2003, p. 23-24, p. 24.
  113. Doris Meissner-Johannknecht, Amor kam in Leinenschuhen, op. cit., S. 117-118.
  114. Id., S. 118.
  115. Id., S. 101.
  116. Id., S. 104.
  117. Manfred Berger, Denn zwei Männer lieben sich nicht, München, Ernst Reinhardt, 1991, S. 385.
  118. Kristina Dunker, Der Himmel ist achteckig, op. cit., S. 102.
  119. Mirjam Müntefering, Tochter und noch viel mehr. Eine autobiographische Reise, München, Piper, 2008, S. 134.