Till Lindemanns Fratzenschau im Geiste des Struwwelpeters
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Seit ihrer Gründung 1994 hat sich die Band Rammstein in der Musikszene längst als Urgestein des Genres der Neuen Deutschen Härte etabliert. Selbst wer die Band nicht näher kennt, hat mit großer Wahrscheinlichkeit von den eingängig-harten Klängen, den infernalischen Bühnenshows oder ihren finster-poetischen Liedtexten gehört. Dabei verleiht der kostümierte Frontmann Till Lindemann dem eigentlich körperlosen ‘Bösen’ buchstäblich sowohl eigene Stimmen als auch Gesichter, ohne es jedoch auf eine einzelne Gestalt festzulegen oder zu beschränken : Das körperlose Böse entspricht in seinem Fall all den Verhaltensmustern, die der konventionellen Vorstellung von Tugendhaftigkeit bzw. der allgemeinen Alltagserfahrung auf radikale Weise zuwiderlaufen und deshalb insbesondere die wunden Punkte der Gesellschaft traktieren. So fungiert der Sänger als Projektionsfläche des vielgestaltig Abgründigen, in dessen Rolle er von Song zu Song neu schlüpft. Die Deformierung der Kunstfigur Till Lindemann auf der Bühne verdichtet das gesellschaftlich Geächtete zu stereotypen Schablonen und sorgt für die provokante Sprengkraft, welche maßgeblich zum andauernden Erfolg der Band beigetragen hat.
All dies wird von einer künstlerischen Methodik gespeist, die im Gesamtwerk des Dichters 1 Anwendung findet : die Fratzenschau. Diese exponiert das sich in den Köpfen immer neuformende Böse und gibt es schließlich in ihrer grotesken Übersteigerung der Lächerlichkeit preis. Der vorliegende Aufsatz beabsichtigt zunächst, Lindemanns Poetik des Bösen anhand prägnanter Beispiele seiner Rollenlyrik vorzuführen und zu zeigen, warum sich der Begriff der Fratzenschau zur Beschreibung derselben anbietet. Das Rollenaufgebot umfasst zumeist egozentrische Außenseiter, Masochisten/Sadisten und Tabubrecher, für welche sexuelle Diversität, pathologische Grausamkeit und übersteigerter Hedonismus charakteristisch sind. Obwohl dieses lyrische Unternehmen weitgehend als apolitisch bezeichnet werden muss, entfachen die empörenden Transgressionen politische, gesellschaftliche und ästhetische Diskussionen. Es wird bewusst inszeniert, dekonstruiert und ironisiert, ‘was man eigentlich nicht darf’. Folglich lässt sich Lindemanns Schaffen problemlos in das literarische Genre der trangressive fiction einreihen, dessen schillernde Protagonisten sich ebenfalls durch ihre exzessiven Grenzüberschreitungen auszeichnen. Mithilfe der Einordnung wird sich ein tieferes Verständnis für die Funktionsweise hinter Lindemanns Fratzenschau auftun, die im letzten Schritt zur geistigen Verwandtschaft mit Werner Hoffmanns Kinderbuchklassiker Der Struwwelpeter (1844) führt. Um diesen Sprung zu bekräftigen, sollen entscheidende Parallelen zwischen Lindemanns poetischem Schaffen und dem Bilderbuch nachgewiesen werden. Beide verfolgen in Bezug zu den Rezipienten einen autoritären Erziehungsstil – eine ‘Schocktherapie’ für das Publikum bzw. die Leserschaft. Als übersteigerte Negativbeispiele brechen Lindemanns Rollen das Schweigeverbot über Tabuthemen und verzerren die Trennlinie von Normalität und Perversion, sodass die geneigte Hörer- oder Leserschaft sich gezwungen sieht, die vorgebildeten moralischen Grenzziehungen zu hinterfragen und zu überdenken. In diesem emanzipatorischen Ziel liegt, wie gezeigt werden soll, der Grund der Poetologie von Lindemanns Fratzenschau.
« Willkommen in der Dunkelheit » – Lindemanns Poetik des Bösen
Das Lied « Mein Teil » (Reise, Reise, 2004) bietet sich aus zweierlei Gründen zur Veranschaulichung der Lindemann’schen Rollenlyrik an : Zum einen finden sich auf textlicher Ebene alle wesentlichen Merkmale der für sie typischen Widersittlichkeit; zum anderen handelt es sich um einen der meistgespielten Rammstein-Songs mit einer ausgebauten Bühnenchoreographie, welche das Gesungene im wahrsten Sinne des Wortes rollenspielerisch umsetzt.
Den realen Hintergrund für den Song und die Auftritte bildet der mediale Skandal um Amin Meiwes, den sogenannten ‘Kannibalen von Rotenburg’, welcher im Jahr 2001 sein Opfer Bernd Brandes entmannt, ermordet und verspeist hat. Obwohl « Mein Teil » mehrfach auf den Vorfall referiert, wird das Geschehen stark fiktionalisiert und überzeichnet, sodass von einer uneingeschränkten Identifikation mit dem ‘Kannibalen von Rotenburg’ keine Rede sein kann. Vielmehr dient der Skandal als Ausgangspunkt für den fiktionalen Entwurf eines Kannibalen, der sich sowohl einem anderen Mann zum Verzehr anbietet als auch sich selbst isst. Der Refrain 2, in dem sich Täter und Opfer – sofern man noch von solchen Kategorien sprechen kann – in ständigem Widerstreit über das (Körper- bzw. Geschlechts-)’Teil’ befinden, thematisiert den prekär gewordenen Besitzanspruch auf den eigenen Leib im Liedszenario : Auf der einen Seite steht die freiwillige Selbstaufgabe des Körpers zwecks (sexuellem) Genuss, die in der Freiheit des Individuums liegt oder eigentlich liegen sollte; auf der anderen Seite beharrt der lyrische Sprecher trotzdem noch auf den ihm zustehenden An-‘Teil’ – sowohl bezogen auf die Verfügung über den eigenen Leib als auch aufs Essen. In diesem Widerspruch – sich gleichzeitig das Recht auf die totale Abgabe, aber auch die Kontrolle über den Körper in Anspruch zu nehmen bzw. einzufordern – findet sich das eigentliche Dilemma, auf welches das Lied hinweist : Wo verlaufen die rechtlichen Grenzen der individuellen Freiheit des Einzelnen, wenn der Selbsterhaltungstrieb fundamental gestört ist : Wem gehört das ‘Teil’, der mit einem selbst verbundene Körper, wenn man ihn jemand anderem zur freien Verfügung gestellt hat ? Eine solche Form des gesellschaftlichen Grenzfalls, der sowohl exzeptionelle als auch exemplifizierende Züge trägt, ist für Lindemanns Rollenlyrik typisch und dient zur Thematisierung gesellschaftlicher Tabus bei gleichzeitiger Distanzierung von einer eindeutigen politischen und moralischen Positionierung 3.
Im Falle von « Mein Teil » handelt es sich dabei um die Themen Kannibalismus und abnorm selbstzerstörerischer Masochismus, welche durch die gehobenen Esssitten auf die Zuhörer umso verstörender anmuten:
Ist doch so gut gewürzt und so schön flambiert
Und so liebevoll auf Porzellan serviert
Dazu ein guter Wein und zarter Kerzenschein
Ja, da laß ich mir Zeit etwas Kultur muß sein 4.
Obwohl Lindemanns Lyrik nahezu ausschließlich zur totalen Ausschweifung anstatt zur regulierten Genusskultur tendiert 5, lässt dieses Ineinander von Verdorbenheit und Kultur an de Sades literarische Tradition denken, über den Overthun feststellt : « Es gehört zur sadianischen Ökonomie der Lust […] den Exzess nach präzisen Regeln der Kontrolle der Körper zu verwalten. Wilder Konsum und kalkuliertes Genießen der Körper schließen sich bei Sade nicht aus 6. »
Die simpel gehaltene Wortwahl wird in der dritten Strophe von einem metaphorischen Duktus abgelöst, um die Grauenhaftigkeit des aufgeworfenen Abgrunds in konkrete Bilder zu fassen 7 : Das unerklärlich-widernatürliche Geschehen ‘schreit zum Himmel’ – sprichwörtlich und buchstäblich. Darin besteht ein weiteres Merkmal der Lindemann‘schen Rollenlyrik : Die ins Buchstäbliche verkehrte oder pervertierte Idiomatik bezweckt, das heikle Tabuthema bis ins Zynische zu banalisieren oder euphemisieren, damit der Kontrast zur Alltagssprache umso stärker hervortritt. Wenn es im Lied also heißt « Denn du bist was du ißt / Und ihr wißt was es ist 8 », entlarvt Lindemann im Grunde das genuine Menschsein als etwas, was sich zwingend durch seine Affinität zum Perversen definiert. Die Annahme, dass der Mensch – tragischerweise – seinen Trieben, Gelüsten und Schwächen ausgeliefert ist, bildet die Grundprämisse seines Schaffens, wie zahllose Textbeispiele belegen könnten 9.
Dass bei aller Ernsthaftigkeit der Thematik stets ein Hang zur Selbstironie spürbar ist, einem der wichtigsten Stilmittel Lindemanns, dürfte spätestens bei den erwähnten Bühnenauftritten zu « Mein Teil » nicht mehr zu bezweifeln sein : In ihnen schlüpft Till Lindemann in die Rolle des ‘Metzgermeisters’ 10, einem mordlustigen Kannibalen in blutiger Schürze, der sein Opfer, gespielt vom Keyboarder Christian ‘Flake’ Lorenz, mit einem Messer in einen mannshohen Kochtopf jagt. Anschließend entfacht er darunter mithilfe eines eigens für die Bühnenshow entworfenen Flammenwerfers ein Feuer, um auf eindrucksweise Art und Weise zu versinnbildlichen, dass er ist, was er is(s)t. Spektakuläre Performances wie diese tragen maßgeblich zum provokativen Bandimage bei und lassen die gesungenen menschlichen Abgründe nicht nur sichtbar werden, sie exponieren und karikieren das ‘Böse’ vor den Augen tausender Konzertbesucher auf spielerische Weise, um es bei den Massenveranstaltungen buchstäblich ins (Scheinwerfer)Licht zu ziehen und der Lächerlichkeit preiszugeben. Aufgrund der bis zur Verzerrung stilisierten Übertriebenheit der Rollen und ihrem Kalkül auf einen Schockeffekt bietet sich die bereits genannte Begriffsprägung der Fratzenschau an.
Aus dem Refrain des Liedes « Wiener Blut » (Liebe ist für alle da, 2009) geht das Prinzip hinter der Fratzenschau klarer hervor, da sich das lyrische Ich darin direkt mit der Frage an das Publikum wendet, ob es den verstörenden Inhalten gewachsen ist 11. Es handelt sich dabei um einen auffälligen Wechsel in die Sängerrolle, der deutlich bekräftigt, dass Lindemann als Künstler bewusst zwischen der Fratze des inzestuösen Vergewaltigers und seiner Bühnenshow differenziert. Dabei sind die Fragen im Refrain implizit als eine Aufforderung zu verstehen, sich auf weitere tabulose Enthüllungen einzustellen und entsprechend zu wappnen. Die Dunkelheit entspricht sowohl derjenigen des thematisierten Kellerszenarios (bzw. gegebenenfalls des abgedunkelten Konzertsaals) als auch des metaphorischen Abgründigen, das besungen wird: Wie das Missbrauchsopfer wird auch das Publikum mit der ‘Dunkelheit’ konfrontiert. Die Klimax des Liedes entlarvt diese Dunkelheit schließlich als die ungefilterte Realität, was auch oder vor allem auf die außerfiktionale Wirklichkeit zutrifft 12. Weil allein der Liedtitel deutlich auf das tatsächliche Geschehen referiert, wäre es naiv zu glauben, dass sich das wahre Böse nur im fiktionalen Rahmen finden lässt. Folglich handelt es sich bei dem Sittenmonster 13 Josef Fritzl nicht etwa nur um einen Einzelfall, sondern um eine (!) ans Licht gebrachte Gräueltat, derer es außerhalb der konventionellen Alltagserfahrung bedeutend mehr gibt. Auf diese Weise manipuliert Lindemann die Distanz der Alltagserfahrung zum körperlosen Bösen, nimmt diesem seine Diffusität und gibt der Konfrontation mit dem Grauen schließlich eine Bühne.
« Ich will, dass ihr mir vertraut » – transgressive Satire
Das Einstellungsmerkmal von Lindemanns Rollenlyrik, sich vorrangig mit geächteten Tabuthemen zu befassen bzw. dieselben in einer überzeichneten Bühnenshow zu parodieren, rückt sie in die geistige Nähe des postmodernen Genres der transgressive fiction, welchem es um das radikale Überschreiten von Geschmacksgrenzen geht. Ob der fiktive avantgardistische Regisseur Vukmir in Srdjan Spasojevićs A Serbian Film (2010, Original : Srpski Film) mithilfe von « Newborn-Porn » – es sei auf die doppelte Lesart hingewiesen – die Underground-Pornoindustrie revolutionieren will oder sich in Bret Easton Ellis‘ American Psycho (1991) die grausamen Mordphantasien des Protagonisten Norman Bates mit seitenlangen Rezensionen über Musikalben abwechseln, so vollzieht die Kunstrichtung transgressive fiction einen radikalen Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen und Sehgewohnheiten. Weil gerade in dieser Geistesströmung Verbindungslinien über die Künste hinweg erkennbar sind und sich die Werke folglich interdisziplinär befruchten, zeichnen sie sich durch ihre stilistische Heterogenität aus. Das Genre allein auf die Literatur zu beschränken, liegt deshalb keinesfalls nahe.
Wie viele der lyrischen Sprecher Till Lindemanns geht transgressive fiction grundsätzlich davon aus, « that knowledge is to be found at the edge of experience and that the body is the site for gaining knowledge 14 », was deren Hang zu extremen Verhaltensmustern erklärt. Diesem Bestreben folgen bspw. der notorische Frauenverführer und Triebtäter in « Ach so gern 15 » oder das Lied « Wollt ihr das Bett in Flammen sehen ? » (Herzeleid, 1995) : « wollt ihr in Haut und Haaren untergehen? / ihr wollt doch auch den Dolch ins Laken stecken / ihr wollt doch auch das Blut vom Degen lecken 16 » – ganz so als wäre der (Selbst)Zerstörungstrieb im Geschlechtsverkehr selbstverständlich und notwendig, um das unersättliche Lustgefühl zu stillen 17. Wird nun Robin Mookerjees prägnante Charakterisierung von transgressive fiction hinzugezogen, lässt sich schnell an Till Lindemann denken :
Transgressive satirists treat flashpoint subjects without taking any kind of moral stand and treat bizarre behavior as if it were absolutely normal. Further, they maintain a sort of authorial anonymity that makes it difficult to extract some semblance of intent from the work to clarify its meaning as a gesture 18.
Alle im Zitat genannten Eigenschaften decken sich mit den bisherigen Ergebnissen und ließen sich in Lindemanns Werk mühelos weiterverfolgen. Während es sich zum einen um inhaltliche, thematische bzw. darstellerische Charakteristika handelt, zielt der letzte Satz zum anderen auf eine Autorstrategie methodischer Selbstdistanzierung ab, die Mookerjee deutlich hervorhebt :
[Literary transgression] achieves an audience among cultural elites while maintaining neutrality, a refusal to take sides in the debates brought up by the subject matter of the work. This masterstroke forces the audience to face the subject matter of the work directly, rather than through the optic of a system or theory 19.
Indem Lindemann als Autor und Bühnenperformer so tut, als sei das obszöne Verhalten seiner Sprecher vollkommen normal, es kaum jemals (oder höchstens implizit) problematisiert und er gar mit den Rollen zu verschmelzen scheint, wenn diese als Sänger auftreten, konfrontiert er die Rezipienten unmittelbar und ohne eine moralische Orientierung zu liefern mit dem skandalösen Sachverhalt. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen, welche mithilfe einer Textanalyse erörtert werden sollen: Einerseits sichert sich Lindemann bis zu einem heiklen Punkt gegen jedwede Kritik ab, weil er den ‘Spielregeln’ zufolge schließlich alles sagen dürfte, und andererseits fordert dieses satirische Spiel das kritische Verstandesvermögen der Rezipienten – es ließe sich noch hinzufügen : heraus.
Anhand des Liedes « Ich will » (Mutter, 2001) lässt sich gut veranschaulichen, dass das Spiel mit der Distanz oder Nähe zu den Rollen für das Lindemann’sche Werk programmatisch ist. Darin bekennt der lyrische Sprecher, ein Sänger, dass es ihm bzw. ihnen – also : der Band – vermeintlich um totale Kontrolle über das untergebene Publikum und uneingeschränkte Partizipation gehe 20. Schon bei einer oberflächlichen Rezeption fällt die selbst für Rammstein minimalistische Textgestalt auf, die das besungene Wollen stark betont und alternativlos erscheinen lässt. Wird die Konzertsituation, welche beim Verfassen des Liedes zweifellos ausschlaggebend war, imaginiert, so provoziert das Frage-Antwort-Spiel 21 ein geradezu rauschhaftes Einheitsgefühl zwischen dem Publikumschor und der Band, das in Verbindung mit Lindemanns rollendem ‘R’ schnell problematisch anmuten könnte. In diesem wie in einigen anderen Liedern werden bewusst politische Assoziationen in Bezug zum Nationalsozialismus eingestreut, denen zufolge sich Lindemann als totalitärer Verführer verherrliche und die Bühnenshow zur Propaganda missbrauche. Allerdings sollte dabei einmal bedacht werden, dass eine bis zur Lächerlichkeit übertriebene Selbstzelebrierung zum festen Bühnenvokabular der Band gehört, um unreflektierte Idolatrie und Narzissmus im Musikgeschäft zu parodieren 22, und es sich außerdem um eine von vielen Fratzen handelt, welche im Kontext anderer Parodien augenblicklich an politischer Brisanz verliert. Die hyperbolische Bedrohlichkeit dieses wie aller anderen Liedszenarien erfüllt die Erwartungshaltung des Publikums und übt eine harmlose Faszination des Bösen aus.
Letztlich lässt sich in zwei Versen des selbstreferentiellen Songs « Rammlied » die Erwiderung zu der Frage erkennen, wie verwerflich diese Art des Musikprogramms nach Meinung der Band zu finden ist. Dort heißt es – wie als expliziere Lindemann die geistige Nähe zur transgressiven Satire : « Wenn ihr keine Antwort wisst / Richtig ist was richtig ist 23. »
« Wir kommen mit dem Liederbuch » – Fratzenschau im Geiste des Struwwelpeters
Bisher hat die Untersuchung die Charakteristika der Lindemann’schen Rollenlyrik und dessen Poetik des Bösen herausgestellt. Unter dem Begriff der Fratzenschau ist das Exponieren der Tabubrecher auf der Bühne gefasst und bewertet worden. Dafür bot sich das literarische Genre der transgressive fiction an, weil bei Lindemann wie bei jenem inhaltlich-thematische und methodische Parallelen in der Satire deutlich erkennbar sind. Folglich ist nun der Weg geebnet, sich an der Poetologie zu versuchen, welche das Konzept der Fratzenschau mit Werner Hoffmanns Kinderbuch Der Struwwelpeter in Einklang bringen soll. Die Verbindung zwischen den beiden besteht nicht rein auf inhaltlich-thematischer und stilistischer, sondern – wie im Fall der transgressive fiction – vor allem auf methodischer Ebene, wodurch sich ein tiefergehendes Verständnis von Lindemanns Werk erschließen lässt.
Alle drei Ebenen treten bereits in der wohl berühmtesten Illustration des Kinderbuchs zutage: dem titelgebenden Struwwelpeter. Auf ihr ist ein Junge abgebildet, der sich « fast ein Jahr » lang nicht gepflegt hat und darum monströs-verwildert wirkt. Das unglücklich dreinblickende Kind wurde auf ein Podest gestellt, das den mahnenden Begleittext verkündet : « Sieh einmal, hier steht er, / Pfui! der Struwwelpeter 24 ! » Es liegt auf der Hand, dass das Verhalten aus pädagogischer Sicht als ungezogen gebrandmarkt wird und dementsprechend der Vorstellung gelungener Kindererziehung zuwiderläuft. Die sichtbare Hilflosigkeit, welche durch die abgespreizt gehaltenen Hände ausgestellt wird, resultiert passend dazu aus der ungehorsamen Weigerung des Struwwelpeters, sich die Nägel schneiden zu lassen. Das bedeutet zum einen, dass ein elementarer Zusammenhang zwischen dem Fehlverhalten und der unglücklichen Situation vorangenommen und zum anderen bildlich hergestellt wird.
Aus all diesen Beobachtungen leitet sich schließlich die Nähe zu Lindemanns Werk ab. Erstens : Inhaltlich-thematisch geht es sowohl bei Lindemann als auch im Struwwelpeter um Negativbeispiele unartiger ‘Kinder’, die sich durch ihr Fehlverhalten ins Unglück gestürzt haben 25. Zweitens : Stilistisch zeichnet beide ein eingängiger Rhythmus und ein simples, gleichmäßiges Metrum aus, die ein « rasches und dauerndes Behalten [fördern] 26 », wie Könneker beim Struwwelpeter feststellt, und im Falle der Lieder für die Massentauglichkeit und Begeisterungsfähigkeit sorgen. Diese Einfachheit wird zudem musikalisch häufig durch den monotonen Einsatz des Schlagzeugs umgesetzt. Drittens : Am wichtigsten aber ist die methodische Ähnlichkeit zwischen Lindemanns Fratzenschau und Hoffmanns Bilderbuch. In beiden Fällen lässt sich ein weitgehendes Interesse feststellen, den Rezipienten das tabuierte Fehlverhalten der Figuren buchstäblich auf ein Podest bzw. eine Bühne zu stellen und so mittels eines Schockeffekts zu ‘erziehen’. Selbstverständlich bestehen zwischen den pädagogischen Absichten grundlegende Unterschiede – allein die Zielgruppen sind völlig verschiedene ; dann wäre da noch die apolitische Haltung der Band zu nennen, die stets ihre politischen Ziele verunklart –, diese lassen jedoch die methodische Verwandtschaft nur umso verblüffender erscheinen.
Obwohl es sich um Einzelfälle handelt, so finden sich in Lindemanns Werk doch einige intertextuelle Bezüge zu Hoffmanns Bilderbuch. Allen voran steht das Lied « Hilf mir » (Rosenrot, 2005), welche eine Adaption der Episode « Die gar traurige Geschichte mit dem Feuerzeug » darstellt. Alle Änderungen zum Originaltext indes verformen den ursprünglichen moralischen Sinn in ein Eingeständnis menschlichen Scheiterns. Anstelle des drastischen Mahnappells, sich an die Anweisungen der Eltern zu halten, wird in « Hilf mir » das menschliche Erliegen gegenüber den (sexuellen) Trieben vorgeführt. Das Zündeln repräsentiert dabei die Selbstbefriedigung, welche in der unrettbaren Triebhaftigkeit – allegorisiert durch den Feuertod – mündet. Deshalb tritt das Feuer, eines der entscheidendsten Leitmotive in Lindemanns Werk, hier in allen drei üblichen Bedeutungsdimensionen auf : Als Spiegelung der sexuellen Gelüste (1) fasziniert und reizt es das lyrische Ich in der Einsamkeit ; als zerstörerische Kraft (2) versengt es dasselbe zu einem Aschehaufen und als potentielle Erlösung von den Trieben (3) verlockt es die daraus entrinnende einsame Seele wiederum dazu, zum größeren Feuer, der Sonne, aufzusteigen 27. Aufgrund ihrer Abwesenheit im Lied können weder die Eltern noch die Katzen Minz und Maunz moralischen Beistand leisten: Gerade, wenn nur das Feuer selbst katzenartige Züge aufweist 28, pervertiert Lindemann die vernunftsprechende Mahnfunktion der Haustiere im Original. Insgesamt gewinnt die graphische Erbarmungslosigkeit des Geschehens aus dem Originaltext also eine neue Qualität : Es wird durch den Schockeffekt nicht länger die Lebenslektion eingebläut, sich der Erziehung gemäß züchtig zu verhalten, sondern auf die schwerwiegende Eigenverantwortlichkeit des Menschen gegenüber seinen übermächtigen Trieben hingewiesen, die – wie im Falle vieler Fratzen Lindemanns – zum Untergang führen können. Wenn sich das lyrische Ich durch den Aufstieg zur Sonne, abermals ein Leitmotiv des Autors, eine Läuterung von den Trieben verspricht, allegorisiert Lindemann mithilfe der « Paulinchen »-Erzählung die gleichzeitige Ironie und Tragik dieses Kerngedankens seines Schaffens.
Schließlich wird die methodische Ähnlichkeit noch durch »Ein Lied« (Rosenrot, 2005) textlich fundiert, denn der selbstreferentielle Song adaptiert im Grunde die einleitende Illustration von Hoffmanns Text, in welchem einige der zugrundeliegenden Kindertugenden aufgeführt werden. In jener werde den Kindern ein Bilderbuch, also Der Struwwelpeter, gereicht, wenn sie sich diesen Tugenderwartungen entsprechend verhalten 29. Genauso knüpft der lyrische Sprecher in « Ein Lied » das Musizieren seiner Band an das tugendhafte Verhalten des Publikums 30. Weil aber beim Hören von »Ein Lied« bereits « ein Lied » gespielt wird und die Belohnung dadurch bereits erlangt wurde, wird die besungene Tugendhaftigkeit implizit zur Farce erklärt. Wenn sowohl auf Wohlverhalten als auch Regelverstöße die Belohnung folgt, wird Lindemanns « Liederbuch », d.h. das Bandœuvre, von den genannten Bedingungen befreit : Im Gegensatz zum Struwwelpeter soll das Musikprogramm keine pädagogischen bzw. gesellschaftlichen Vorstellungen zementieren, sondern ironisch unterwandern, erschüttern und – wenn nötig – zerstören.
Schlussendlich liegt es nicht im Ermessen des « Liederbuches », das Böse aus den Köpfen zu vertreiben; vielmehr muss es sichtbar werden und Gestalt annehmen, um das kritische Verstandesvermögen des Rezipienten zu animieren und den von vorgefestigten Denkmustern geprägten Zuhörer zu emanzipieren. Was richtig und was falsch ist, erkennen diejenigen, welche den Künstler hinter den Fratzen sehen können.
Fazit
Um sich an Lindemanns Poetologie anzunähern, war es zunächst nötig, sich der Funktionsweisen seiner Rollenlyrik bewusstzuwerden. Deren Hauptthemen bewegen sich üblicherweise zwischen gesellschaftlichen Tabus und Grauzonen, welche anhand der lyrischen Sprecher oft hyperbolisch verhandelt und euphemisiert dargestellt werden. Mithilfe dieser Fratzenschau rücken unliebsame Randthemen in den Fokus des Interesses und werden auf eine Bühne gestellt. Lindemanns Schaffen wurde daraufhin mit dem Literaturgenre transgressive fiction in Verbindung gebracht, deren Autoren sich – wie Lindemann – dadurch auszeichnen, dass sie den Rezipienten trotz der Drastik der Themen kaum moralische Orientierungshilfen an die Seite stellen. Dieses Verfahren schirmt die Künstler einerseits vor jeglicher Kritik ab und überlässt andererseits den Rezipienten die absolute Deutungshoheit. Schließlich wurde die Fratzenschau mit dem Struwwelpeter in Verbindung gebracht, sodass entscheidende Korrespondenzen offengelegt wurden. Oberflächlich bestehen intertextuelle Verbindungslinien zwischen einigen wichtigen Texten Lindemanns und dem Bilderbuch, darunter verbergen sich jedoch außerdem zentrale methodische Überschneidungen : Das Mittel der Fratzenschau, d.h. der ‘Schockeffekt’, gleicht gewissermaßen dem des Erziehungsmodells des Struwwelpeters, was allerdings nicht bedeutet, dass es der Zweck ebenfalls täte. Während Hoffmann den jungen Lesern an den Negativbeispielen seines Bilderbuchs offensichtlich Exempel statuiert und Tugendlektionen vermitteln will, eifert Lindemanns « Liederbuch » emanzipatorischen Zielen nach, indem es das Verbotene zwar vorführt, aber unzureichend ablehnt, um diesen Gedankenschritt den Rezipienten zu überlassen.
An diesem Punkt böten sich zahllose weitere Untersuchungen an, um Till Lindemann als Lyriker besser zu verstehen und einordnen zu können. Bereits angerissene Themen wie das Körperkonzept in seinen Texten 31 oder das dichterische Selbstverständnis zwischen Parodie und Hybris 32 erscheinen reizvoll, um an die bisherigen Ergebnisse anzuknüpfen. Jüngste Beispiele wie der befremdliche Medienskandal um das Gedicht « Wenn du schläfst » seiner neuesten Lyriksammlung 100 Gedichte (2020) beweisen zur Genüge, wie essentiell es ist, den geistigen Kontext eines Werks zu kennen, bevor es zu einer vorschnellen Brandmarkung oder gar den Aufruf nach einer Zensur kommt.
- Lindemanns Schaffen sollte an dieser Stelle kurz skizziert und erörtert werden: Als bekannteste Anteil darf zweifellos sein Mitwirken an der Band Rammstein gelten, daneben sind jedoch auch drei Gedichtbände sowie seine Tätigkeit unter dem Soloprojekt Lindemann zu nennen. Nun muss zu dem Erstgenannten noch beigefügt werden, dass in den Albenbooklets durchweg die gesamte Band als für die Liedtexte verantwortlich aufgeführt wird. Das bedeutet, dass Lindemanns genauer Einfluss auf die Lyrics sehr schwer zu determinieren ist. Allerdings ist ebenso unbestreitbar, dass sich das in Rammstein vorherrschende Themen-, Symbol- und Motivrepertoire nahezu lückenlos in Lindemanns (in wesentlichen Teilen früher verfassten) Gedichten und darüber hinaus in seinem Soloprojekt finden lässt. Weil das Werk insgesamt jeweils konsequent Lindemanns Stil aufweist, macht eine Trennung des lyrischen Œuvres keinen Sinn. Um die Argumentation nicht unnötig zu verkomplizieren, ist in diesem Aufsatz deshalb stets nur von Till Lindemann die Rede – außer, wenn es explizit um Rammstein geht. Das geschieht meistens dann, wenn die Bühnenauftritte für den Gedankengang relevant sind.
- « Denn du bist was du ißt / Und ihr wißt was es ist [/ Es ist mein Teil, nein / Mein Teil, nein / Denn das ist mein Teil, nein / Mein Teil, nein] », Rammstein, « Mein Teil », in Reise, Reise, UMG, 2004. Der Abschnitt in Klammern findet sich nur im gesungenen Lied, nicht im Booklet. Je nach Interpretation bezieht sich das wiederholte Nein entweder auf das angesprochene ‘Ihr’ – also : die Gesellschaft, welche damit meint, über die freie Verfügung des Körpers entscheiden zu dürfen – oder den anderen Kannibalen, in dessen Verfügungsgewalt sich das lyrische Ich begeben hat. Ersteres betont die gesellschaftskritische, letztere eher die individual-pathologische Dimension des Liedes. Weil sich diese Perspektiven nicht ausschließen, wird im Folgenden zwischen beiden nicht weiter differenziert.
- Weitere Beispiele wären die krankhafte Trägheit in »Keine Lust« (Reise, Reise, op. cit.), die Entmenschlichung von Übergewichtigen in « Fat » (Skills in Pills, Warner Music, 2015) und das schrankenlose Ausleben des Fetischs in »Gummi« (F&M, UMG, 2019). Jeder dieser Fälle gestaltet ein soziales Phänomen so gravierend um, dass zwar gewisse Aussagen auf die Gesellschaft übertragen werden könnten, der außergewöhnliche fiktionale Rahmen dieser Eindeutigkeit jedoch zuwiderläuft.
- Rammstein, « Mein Teil », op. cit.
- So ist es bspw. in den Liedern « Mehr » (Liebe ist für alle da, UMG, 2009) und « Allesfresser » (F&M, op. cit.), in denen der Überfluss als Selbstzweck zelebriert wird.
- Rasmus Overthun, « Das Monströse und das Normale. Konstellationen einer Ästhetik des Monströsen », S. 62, in Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.), Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen, Bielefeld, transcript, 2009, S. 43-79.
- « Ein Schrei wird zum Himmel fahren / Schneidet sich durch Engelscharen / Vom Wolkendach fällt Federfleisch / Auf meine Kindheit mit Gekreisch », Rammstein, « Mein Teil », op. cit.
- Rammstein, « Mein Teil », op. cit.
- Siehe bspw. « Du riechst so gut » (Herzeleid, Motor Music Records, 1995), « Tier » (Sehnsucht, Motor Music/Slash Records, 1997), « Zerstören » (Rosenrot, Universal, 2005) und « Ach so gern » (F&M, op. cit.).
- Diese Bezeichnung stammt aus der Singleversion des Songs, in der es zu Beginn heißt: « ‘Suche gut gebauten 18-30Jährigen zum Schlachten.’ Der Metzgermeister. » (Rammstein, « Mein Teil », op. cit.). Im Albenbooklet ist der Vorspruch ebenfalls abgedruckt.
- « Seid ihr bereit / Seid ihr so weit / Willkommen in der Dunkelheit », Rammstein, « Wiener Blut », in Liebe ist für alle da, op. cit. Das Lied ist mit dem zuvor besprochenen thematisch und stofflich wesensverwandt, da es sich ebenfalls um die lyrische Adaption eines Medienskandalfalls handelt : den berüchtigten Fall des Österreichers Josef Fritzl, der seine 18-jährige Tochter 24 Jahre lang (1984 bis 2008) gefangen hielt, wiederholt vergewaltigte und sieben Kinder zeugte. Die Hilflosigkeit und Tücke innerhalb des fiktiven Szenarios werden durch die monologische Form auf die Spitze getrieben, weil sie das Geschehen und alle Redeanteile des Opfers an die euphemisierende Sicht des Täters koppelt.
- « Seid ihr bereit / Seid ihr soweit / Willkommen in der Dunkelheit / In der Einsamkeit / In der Traurigkeit / Für die Ewigkeit / Willkommen in der Wirklichkeit », Rammstein, « Wiener Blut », op. cit.
- Vgl. Rasmus Overthun, « Das Monströse und das Normale », op. cit.
- Anne H. Soukhanov, « The American Heritage Dictionary of the English Language : Third Edition », The Atlantic, 12/1996, https://www.theatlantic.com/magazine/archive/1996/12/word-watch/376751/.
- Im Refrain erklärt der Sprecher, wie dringend ihm die sexuellen Erfahrungen seiner Verführungskunst sind : « Denn ach so gern hab ich die Frauen geküsst / Und doch nicht immer auf den Mund / Ich wollte immer wissen, wie es ist / Und küsste mir die Lippen wund », Lindemann, « Ach so gern », in F&M, op. cit.
- Rammstein, « Wollt ihr das Bett in Flammen sehen ? », in Herzeleid, op. cit.
- Was hier zum Zweck der Engführung von Lindemann und dem Genre umrissen wird und bereits in « Mein Teil » mitanklang, ist ein weitverzweigtes Thema des Dichters: der Zusammenhang von Schmerz und Lust bezogen auf das Selbst und eine(n) Geschlechtspartner/in. Ferner die Verknüpfung zur Sexualität und zum Eros. Es wäre nicht zu weit gegriffen, das Freud’sche Konzept vom Lebens- und Todestrieb als Referenzpunkt der Thematik anzugeben, weil Freud bei einem gestörten Gleichgewicht der genannten Kräfte eine psychische Erkrankung vermutet, wie es bei Lindemanns Sprechern meist zugunsten des Todestriebes geschieht. Vgl. Sigmund Freud, « Jenseits des Lustprinzips », in ders., Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey, Bd. 3, Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag, 2000, S. 213-272.
- Robin Mookerjee, Transgressive Fiction: The New Satiric Tradition, Houndsmills, Palgrave Macmillan, 2013, S. 2.
- Ibid.
- Was das lyrische Ich im Einzelnen « will », ist : « dass ihr mir vertraut », « dass ihr mir glaubt », « eure Blicke spüren », « jeden Herzschlag kontrollieren », « eure Stimmen hören », « die Ruhe stören », « dass ihr mich gut seht », « dass ihr mich versteht », « eure Fantasie », « eure Energie », « eure Hände sehen », « in Beifall untergehen », Rammstein, « Ich will », in Mutter, Motor Music, 2001. Es ließe sich berechtigt folgern, dass es auf den zweiten Blick auch hier um Körperkontrolle geht.
- « Könnt ihr mich hören? [Wir hören dich] / Könnt ihr mich sehen? [Wir sehen dich] / Könnt ihr mich fühlen ? [Wir fühlen dich] / Ich versteh euch nicht », Rammstein, « Ich will », op. cit.
- Wie augenzwinkernd Lindemann seine Rolle als Sänger versteht, zeigen bspw. « Links 2-3-4 » (Mutter, 2001), « Los » (Reise, Reise, op. cit.) und « Platz Eins » (F&M, op. cit.). Im offiziellen Musikvideo des letztgenannten Liedes wird die Selbstironie besonders deutlich, wenn die Realität des Sängers als die eines Vierfachamputierten entblößt wird, der sich den besungenen Ruhm lediglich einbildet.
- Rammstein, « Rammlied », in Liebe ist für alle da, op. cit.
- Heinrich Hoffmann, Der Struwwelpeter oder lustige Geschichten und drollige Bilder, nach der Druckfassung von 1859 unter Berücksichtigung der Handschriften, Stuttgart, Reclam, 2009, S. 8.
- Dieser Punkt ließe sich wesentlich umfassender begründen, als es hier geschehen kann. Der Figurentypus des ‘Unreifen Kindes’, welcher ebenfalls auf die Nähe zu Hoffmanns Struwwelpeter zurückgeht, ist in Lindemanns Texten allgegenwärtig und meint, dass die Adoleszenz der Sprecher aufgrund von Traumata oder das Fehlen einer Bezugsperson auffällig oft stehengeblieben oder ungenügend abgeschlossen worden ist. Sie bleiben – besonders in Bezug auf geistige Reife – infantil, was sich häufig in ihrem Vokabular spiegelt. S. bspw. « Zerstören » (Rosenrot, op. cit.), « B******** » (Liebe ist für alle da, op. cit.), « Puppe » (Rammstein, Universal Music, 2019), « Mathematik » (F&M, op. cit.).
- Marie Luise Könneker, Dr. Heinrich Hoffmanns « Struwwelpeter »: Untersuchungen zur Entstehungs- und Funktionsgeschichte eines bürgerlichen Bilderbuchs, Stuttgart, Metzler, 1977, S. 93.
- Diese Bedeutungsdimensionen lassen sich aus unzähligen Textbeispielen herausfiltern: (1) s. bspw. das brennende Bett (« Wollt ihr das Bett in Flammen sehen ? », Herzeleid, op. cit.), (2) « Getadelt wird wer Schmerzen kennt / Vom Feuer das die Haut verbrennt / Ich werf ein Licht / In mein Gesicht / Ein heisser Schrei / Feuer frei ! » (Rammstein, « Feuer frei ! », in Mutter, UBM, 2002), (3) « das Feuer wäscht die Seele rein » (Rammstein, « Asche zu Asche », in Herzeleid, op. cit.). Gerade der Bezug vom Feuer- zum Wasser-Leitmotiv wäre eine eigene Untersuchung wert.
- « Es greift nach mir ich wehr mich nicht / Springt mir mit Krallen ins Gesicht / Es beißt sich fest es schmerzt mich sehr / Ich spring im Zimmer hin und her », Rammstein, « Hilf mir », in Rosenrot, op. cit.
- « Wenn die Kinder artig sind, / Kommt zu ihnen das Christkind. » Die Einleitung schließt mit den Worten : « Bringt es ihnen Gut‘s genug / Und ein schönes Bilderbuch. » Werner Hoffmann, Der Struwwelpeter, op. cit., S. 6.
- « Wer Gutes tut dem wird vergeben / So seid recht gut auf allen Wegen / Dann bekommt ihr bald Besuch / Wir kommen mit dem Liederbuch // […] // Wenn ihr ohne Sünde lebt / Einander brav das Händchen gebt / Wenn ihr nicht zur Sonne schielt / Wird für euch ein Lied gespielt », Rammstein, « Ein Lied », in Rosenrot, op. cit. Nebenbei erwähnt, ist es kein Zufall, dass « Ein Lied » an letzter Stelle des Albums steht und der erste Track des Jahre später entstandenen Albums Liebe ist für alle da das Versprechen einlöst : « Wer wartet mit Besonnenheit / Der wird belohnt zur rechten Zeit / Nun das warten hat ein Ende / Leiht euer Ohr einer Legende » (Liebe ist für alle da, op. cit.).
- Neben « Mein Teil », s. bspw. « Führe mich » (Liebe ist für alle da, op. cit.), « Gib mir deine Augen » (Mein Herz brennt, Universal, 2012) und « Gummi » (F&M, op. cit.).
- Neben « Ich will », s. bspw. « Los », « Rammlied » und « Haifisch » (Liebe ist für alle da, op. cit.).