Unica Zürns Werk als Krankheitsgeschichte. Ein intertextueller Ansatz zu <em>Dunkler Frühling</em>

Unica Zürns Werk als Krankheitsgeschichte. Ein intertextueller Ansatz zu Dunkler Frühling

Par ZIPP Lotta

« Ich versuche einen neuen Text zu schreiben. Die erotischen Erlebnisse eines kleinen Mädchens (aus der eigenen Kindheit) 1 » – nicht nur Aussagen wie jene Unica Zürns, ihren 1969 erschienenen Text Dunkler Frühling 2 (Zürn 1985) betreffend, erschweren einen unvoreingenommenen Zugang zum Werk Zürns. Verweist die Autorin und Künstlerin zeitlebens u.a. in Briefen und Gesprächen auf einen autobiographischen Hintergrund ihres Schaffens 3, wird diese intendierte Rezeptionsweise auch in der Struktur ihres gesamten künstlerischen Schaffens evident. Beschränkt man sich auf Zürns schriftstellerisches Œuvre, so ergibt sich für die Rezeption in Deutschland ein Sonderfall. Dort, im Gegensatz zu Frankreich, ihrer Wahlheimat seit 1953, lässt sich bis zum Jahre 1975 kein Verleger finden, der bereit ist, ihre ab Mitte der fünfziger Jahre entstandenen Texte zu veröffentlichen 4. Nach Weigel ist dies mehreren Faktoren geschuldet – zum einen der in Deutschland verspätet eintretenden Rezeption surrealistischer Werke, in welchen Umkreis Zürns Opus gemeinhin verortet wird, zum anderen der Ende der sechziger Jahre einsetzenden Frauenbewegung, die sich mit der Forderung nach einem « autonomen (weiblichen) Subjekt 5 » jenen Texten verweigert habe, welche dieses Postulat augenscheinlich nicht zu erfüllen vermochten 6. Ferner verweist Rupprecht auf die Implikationen, welche die letztendlich 1975 erfolgte Publikation von Der Mann im Jasmin in der Reihe Neue Frau des Ullstein Verlags mit sich gebracht habe, indem u.a. durch Beibehaltung der Orthographie des Manuskripts sowie durch die Anfügung eines Nachworts Jean-François Rabains (in späteren Auflagen), eines Psychiaters Zürns, welche sich seit Ende der fünfziger Jahre kontinuierlich in sowohl stationärer als auch ambulanter Behandlung befand 7, eine LeserInnenlenkung stattgefunden habe, hin zu einer Rezeption der Textsammlung als Ausdruck und Bericht einer Krankengeschichte 8. Die damit einhergehende Aberkennung des künstlerischen Status des Schaffens Zürns, lässt sich anhand zahlloser Beispiele von Publikationen verfolgen, die ihr Schreiben ausschließlich unter dem Aspekt der Autopathogenese betrachten 9. Obschon die literaturwissenschaftliche wie auch die kunsthistorische Forschung sich zunehmend bemüht, von einer solchen Lesart Abstand zu nehmen, ist sie dennoch weiterhin vorherrschend. Helga Lutz sieht eine Erklärung dieses ihrer Meinung nach « von den RezipientInnen selbst hergestellten Phänomen[s] 10 » u.a. in dem Versuch, dem Werk durch eine Synthese von Autor und Produkt einen Sinnzusammenhang abzuringen, welcher aus dem Werk alleine vermeintlich nicht herzustellen sei 11. Ungleich Lutz, welche konstatiert, dass gegenüber dem Werk Zürns eine « Inkommensurabilität kunsthistorischer und literaturwissenschaftlicher Parameter 12 » herrsche, und somit eine Einordnung dessen infrage stellt, wird im Folgenden von einem Eingebundensein der Arbeiten Zürns in zur Zeit der Entstehung vorherrschende Diskurse und künstlerische Strömungen gemäß aktuellen kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgegangen 13.

Auch in Auseinandersetzung mit Weigel, die darauf hinweist, dass sich « autobiographische Deutungen […] im Fahrwasser jener psychologischen Deutungsmuster [bewegen], die Zürns literarische Texte selbst anbieten 14 » und somit dazu tendierten « dieselbe hermetische imaginäre Welt abzubilden, die Zürns Werk umschreibt 15 », distanziere ich mich in diesem Beitrag von einer solchen Lesart. Stattdessen soll nachgewiesen werden, dass Dunkler Frühling in mehr als nur einer Hinsicht die literarische Verarbeitung/Umsetzung einer psychoanalytischen Fallgeschichte darstellt, in Einbezug der der Psychoanalyse eingeschriebenen Problematik eines patriarchalisch konstruierten Welt- und Kulturverständnisses, ohne daraus Rückschlüsse auf die Person der Autorin ziehen zu wollen. So wird dem angebotenen Deutungsmuster zwar gewissermaßen Folge geleistet, jedoch nicht im Sinne einer autobiographischen Verklärung. Auch wenn eingangs genannte Umstände eine autobiographische Lesart durchaus zu rechtfertigen scheinen, muss dem entgegengesetzt werden, dass Dunkler Frühling ebenso wie andere Werke Zürns allein durch die Installation einer Erzählinstanz, welche sich nicht mit der Autorin deckt, eine solche Auslegung zumindest problematisiert 16. Ferner wird mit der angestrebten Analyse versucht, dem Kunstcharakter des Texts Rechnung zu tragen; unterstützt wird dies im Weiteren durch einen Verweis auf die immanente Intertextualität im Werk Zürns. Gesamt gesehen unterstützt dies die These einer von der Autorin intendierten Lesart ihrer Texte, wobei Dunkler Frühling hier gewissermaßen als nachgereichte Genese ihrer Inszenierung gelesen werden kann.

 

1. Dunkler Frühling als fehlgeschlagene weibliche Subjektfindung

 

1.1. Weibliche Suizidalität aus Sicht der neueren Psychoanalyse

An einem langen Sonntagmorgen kriecht sie zu ihrer Mutter ins Bett und erschreckt sich vor diesem großen, dicken Körper, der seine Schönheit schon verloren hat. Die unbefriedigte Frau überfällt das Mädchen mit offenem, feuchten Mund, aus dem sich eine nackte Zunge herausbewegt, lang wie das Objekt, das ihr Bruder mit seiner Hose verhüllt. Entsetzt stürzt sie aus dem Bett und fühlt sich tief gekränkt. Eine tiefe und unüberwindliche Abneigung vor der Mutter und der Frau entsteht in ihr 17.

Dunkler Frühling behandelt die Entwicklung eines Mädchens, angefangen im Kleinkindalter bis zu den Anfängen der Adoleszenz, endend mit dem Suizid der in der Geschichte zu diesem Zeitpunkt zwölfjährigen, namenlosen Protagonistin. Oben genanntes Zitat findet sich relativ zu Anfang der Erzählung, ein genaues Alter der Protagonistin ist nicht angegeben ; nach Freud würde diese Schilderung jedoch wohl den Übergang von der präödipalen zur ödipalen Phase bezeichnen 18, ist die Protagonistin sich erst in dem unmittelbar vorhergehenden Absatz der Geschlechterunterschiede bewusst geworden 19, aber hierzu später mehr. Im Folgenden soll unter Anlehnung an eine Theorie der Psychoanalytikerin Benigna Gerisch, welche von einer spezifisch weiblichen suizidalen Psychodynamik ausgeht 20, ebendiese Genese innerhalb des narrativen Aufbaus sowie der Figurenverhältnisse im Text Dunkler Frühling nachgewiesen werden, wobei obiges Zitat sich für den gewählten Ansatz ausschlaggebend zeichnet, nimmt Gerisch in ihrem Ansatz doch eine « dichte Korrespondenz von Suizidalität und der Genese von Geschlechtsidentität 21 » an. So verweist Gerisch aufgrund ihrer beruflichen Erfahrung 22 darauf, dass einer Vielzahl der Fälle, in denen Frauen suizidales Verhalten aufweisen, eine « komplexe weibliche Identitätsproblematik- und Störung » vorliege, die darin begründet sei, dass der « Separations- und Individuationsprozeß [sic] 23 » misslungen sei, welcher sich bei Frauen umso schwieriger gestalte, sofern die Generierung des weiblichen Subjekts ein doppeltes Moment beinhalte – eine Identifizierung der Tochter mit der Weiblichkeit der Mutter sowie die gleichzeitige Entwicklung einer von der Mutter separaten weiblichen Identität 24. Von den im Anschluss von Gerisch aufgeführten « psychodynamisch-genetischen Charakteristika » sollen im weiteren Verlauf vier behandelt werden, die zum einen entscheidend für das von ihr skizzierte Krankheitsbild sind, und die sich zum anderen besonders gut anhand des Textes aufzeigen lassen.

 

1.2. Abgewehrte regressive Verschmelzungsängste vs. tiefe Sehnsucht nach der Mutter

In der Lebenswelt der Protagonistin glänzt die Mutter durch Abwesenheit, die Erziehung wird von wechselnden Gouvernanten übernommen, die Mutter scheint für alles mehr Zeit zu erübrigen als für ihre Tochter. So empfängt sie Gäste, vornehmlich Herrenbesuch, widmet sich ihrem Tagebuch und ihrer Toilette und betätigt sich an nichts, was den Lebensumständen der Tochter zugutekommen würde, wie etwa eine Besorgung des Haushalts 25. Eine Spiegelung des Kindes durch die Mutter, welche unabdingbar für dessen Identitätsentwicklung ist 26, ist dadurch nicht gegeben. Das Kind sucht dennoch den Schutz und die Aufmerksamkeit der Mutter, wie etwa an jenem « langen Sonntagmorgen 27 ». Was die Protagonistin in dieser Situation meint zu erfahren, ist jedoch nichts dergleichen, sondern spielt sich mehr im semantischen Feld der Vergewaltigung (« unbefriedigt », « überfällt », « feucht 28 », etc.) ab und erinnert zudem an ein Bild kannibalistischer Einverleibung 29. Die Mutter, die ein Bild einer idealtypischen, allumfassenden Mutter-Kind-Liebe 30 der Tochter nicht zu vermitteln vermag, verweigert somit der Tochter auch eine Identifizierung. Gerisch spricht hier von « eine[r] frühkindliche[n] Traumatisierung durch den Ausfall eines emphatischen Objektes. D.h. das Kind erlebt eine Mutter, die sich in seine infantilen Bedürfnisse und Nöte nicht einzufühlen vermag 31 ». Regressive Verschmelzungsängste äußern sich nicht nur im Bild der Einverleibung durch die Mutter, sondern auch in der aus Sicht der Protagonistin durchweg negativen Besetzung der Mutterfigur – so wird die Mutter als dick und hässlich 32, eifersüchtig 33, egoistisch, faul, lieblos, oberflächlich und eitel 34 beschrieben 35. Separationsversuche des Kindes von der Mutter, wie etwa durch die Sublimierung des mütterlichen Introjekts durch das Dienstmädchen Frieda Splitter 36, werden von der Mutter untergraben.

 

1.3. « [D]as Mißlingen [sic] der Triangulierung und die Idealisierung des psychisch nicht verfügbaren Vaters37 »

Nach Gerisch ist der Vater dafür zuständig, die Tochter darin zu unterstützen, sich von der Dualbeziehung mit der Mutter zu lösen; so verschaffe er ihr durch seine Person die Möglichkeit einer von der Mutter divergenten Identität und beschwichtige somit u.a. auch im Kind vorhandene Trennungs- und Verlustängste 38. Die Protagonistin setzt zwar den Vater vermeintlich an Mutters statt – so « zieht [sie] ihn den Frauen vor, die sie gewöhnlich umgeben 39 » –, jedoch ist auch der Vater nicht präsent, weder psychisch noch physisch und ermöglicht somit dem Kind, ebenso wie die Mutter, weder eine Spiegelung seiner Person, noch erfüllt er dadurch die an ihn gestellten Aufgaben in der familiären Dreiecksbeziehung 40. Das Kind merkt bald nicht nur, dass der Vater abwesend ist 41, sondern auch, dass er die Abwesenheit vom Kind mehr genießt als das Zusammensein: « Er [der Vater] verläßt [sic] immer wieder unruhig das Haus und kommt nach Monaten gebräunt und friedlich zurück 42 ». Die Mutter sinkt noch mehr im Ansehen der Protagonistin, da sie seine Bedürfnisse aufgrund ihrer Hässlichkeit im Gegensatz zu anderen « schöne[n] und elegante[n] Dame[n] 43 » nicht zu befriedigen mag.

 

1.4. « [D]ie Aufspaltung der weiblichen Identität 44 »

Ein weiteres « psychodynamisch-genetisches Charakteristika » stellt nach Gerisch « die Aufspaltung der weiblichen Identität i.S. einer fundamentalen Identitätsdissoziation von Weiblichkeit und Männlichkeit 45 » dar, im Zuge welcher sich das Mädchen/die Frau ein feststehendes Bild von spezifisch männlichen, bzw. weiblichen Eigenschaften imaginiere, welche sie in ihrer Person zu vereinigen suche. So entwickelt die Protagonistin in Dunkler Frühling mütterliche Teilintrojekte, in Reaktion auf die Zurückweisung seitens der Mutter (das Herbeiphantasieren männlicher Figuren aus Literatur und Kunst setzt nach der zu Anfang des Kapitels zitierten Szene ein) die zum Teil positiv besetzt sind – vergl. die imaginierte « Nachtwache 46 »  –, das Mädchen beschützen, sowie sie zu ihrem « Mittelpunkt » machen, sich teils aber auch als übergriffig und bedrohlich manifestieren – die « Nachtwache » mutiert nach der Vergewaltigung durch den Bruder zu einer nächtlich wiederholten, imaginierten Vergewaltigungs- und Tötungsszene 47. All jene Introjekte sind männlich und lassen sich zudem als in ihrer Genese aus der Phantasie des Mädchens als aus der Beziehung zur Mutter hervorgehende interpretieren, symbolisieren sie in ihrer Eigenschaft Sehnsucht nach idealtypischer Mutterliebe und Verschmelzungsängste zugleich. Inwieweit eine Orientierungslosigkeit des Mädchens bezüglich ihrer geschlechtlichen Identität besteht, zeigt auch folgendes Zitat : « Sie bedauert es, ein Mädchen zu sein. Sie möchte ein Mann sein, schon in reifen Jahren, mit einem schwarzen Bart und schwarzen Augen, die wie Flammen sind 48. » Die von der Protagonistin gewünschte Identität greift zum einen die von ihr imaginierten männlichen Figuren auf, gleichzeitig findet sich hier eine Reminiszenz an die Vaterfigur 49.

 

1.5. « [D]ie synthetisierende Funktion des Suizids 50 »

Die imaginierten Männerfiguren sowie der idealisierte Vater werden nach einer Begegnung mit einem Fremden in der Badeanstalt als von ebendiesem abgelöst. Auffällig ist auch hier die Wortwahl, die die erträumte Beziehung des Kindes zu jenem Mann beschreibt :

 

Selbst wenn er ihr in Wirklichkeit nie einen einzigen Blick schenken würde, ist sie fähig geworden, sich vorzustellen, daß [sic] er sie anblickt, mit seinen Augen, aus denen eine tiefe erschütternde Liebe leuchtet. Er bleibt über sie geneigt, während sie schläft. Sie ist das Kind, das er sich wünscht und nie geschenkt bekommt  51.

 

Anstelle einer erwünschten sexuellen Beziehung wird dem Fremden die Funktion eines Mutterersatzes angewiesen, die Protagonistin versucht gar « ihm ähnlich zu sehen 52 ». Das anschließende Verbot der Mutter, die Badeanstalt weiterhin zu besuchen, sodass ihr ein Kontakt zum Mann verwehrt bleibe, stürzt die Protagonistin in tiefe Verzweiflung. Folgt man hier der Theorie Gerischs, so ist der anschließende von der Protagonistin vollzogene Suizid ein Syntheseakt, der « Ausdruck der Tötung des falschen Selbst 53 ». Die These findet ihre Unterstützung in der zuvor stattfindenden kannibalistisch anmutenden Einverleibung der Fotographie des Mannes : « Sie steckt die Fotografie in den Mund, zerkaut sie sorgfältig und schluckt sie hinunter. Sie hat sich mit ihm vereinigt 54. » Rekurriert dies zum einen auf das zum Eingang des Kapitels angeführte Zitat, die versuchte Einverleibung durch die Mutter, vollendet sich hier jedoch auch die Identifizierung, die Gleichmachung, mit dem mütterlichen Surrogat. Das Mädchen, sodann « verschmolzen » mit der Mutter und somit in seinen Individuationsbestrebungen gescheitert, tötet sich schließlich selbst. Nach Gerisch sei die Suizidhandlung nicht nur eine Tötung des « Objektes im Subjekt […], sondern zugleich auch […] Objektrettung » und agiere « eine genetisch noch frühere Phantasie vom Rückzug in einen harmonischen Primärzustand 55 ». Durch die Selbsttötung wird zum einen der übergriffige Anteil getötet, zum anderen wird einem Identitätsverlust durch Objektverlust entgegengewirkt 56.

 

2. Narrative Wechselwirkung im Werk Zürns

Die aufgeführten Themen und Motive lassen sich auch in einer Vielzahl anderer Prosatexte Zürns wiederfinden. So begegnet man der Bettszene mit der Mutter bereits im Mann im Jasmin (Zürn 1985), welcher vor Dunkler Frühling verfasst wurde (abgeschlossen 1967) :

 

Von einer unerklärlichen Einsamkeit erfüllt, geht sie an diesem Morgen in das Zimmer ihrer Mutter, um – wenn es möglich wäre, in diesem Bett dahin zurückzugelangen, woher sie gekommen ist, um nichts mehr zu sehen.

Da wälzt sich ein Berg von lauem Fleisch, der den unreinen Geist dieser Frau einschließt, über das entsetzte Kind, und sie flieht für immer die Mutter, die Frau, die Spinne! Sie ist tief verletzt  57.

 

Schon hier findet sich die Mutter als pars pro toto für die Weiblichkeit, die Frau. Zudem ist der Wunsch einer frühkindlichen Vereinigung mit der Mutter, die Rückkehr in den mütterlichen Schoß, klar ausformuliert. Auch hier flieht sich die Protagonistin im weiteren Verlauf der Erzählung zu einer imaginierten männlichen Figur. Auch in Das Weiße mit dem roten Punkt 58 findet sich ein Motiv aus der Erzählung Dunkler Frühling, der Selbstmord des zwölfjährigen Mädchens. So heißt es hier : « Ich bereue es jetzt nicht mehr, daß [sic] ich mich nicht schon als Zwölfjährige damals aus dem Fenster gestürzt habe 59. » Es ließen sich noch viele weitere Beispiele aufzeigen, jedoch soll anhand dieser zwei nur exemplarisch dargestellt werden, inwieweit Zürns Texte sich jeweils in ein von der Autorin produziertes intertextuelles Geflecht einfügen, sodass sie sich gegenseitig bedingen und ergänzen. Dunkler Frühling kann in diesem Zusammenhang als intendierte nachgereichte Deutung vorheriger Texte verstanden werden, werden in ihm zuvor durchgespielte Szenen und angedeutete Motive in ihrer Genese erklärt, ausgelegt und in einen weiteren Sinnzusammenhang verflochten.

 

3. Intertextuelle Bezugnahme auf Freud

Schließlich kann Dunkler Frühling auch als eine Auseinandersetzung mit Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse gelesen werden, so finden sich hier zahlreiche Bezüge, sowohl im inhaltlichen Aufbau sowie in vermeintlich expliziten intertextuellen Verweisen. Ebenso wie Dora, Freuds Fallbeispiel einer Hysteriepatientin, eignet sich die Protagonistin in Dunkler Frühling ihr Wissen, was Geschlechter und Sexualität betrifft, zu Teilen im Konversationslexikon an :

 

Sie entdeckt das Konversationslexikon und entdeckt die nackten Bilder, die ihr und ihrem Bruder gleichen  60.

[…] der mußte [sic] seine Kenntnis aus […] anatomischen Lehrbüchern oder aus einem Konversationslexikon, der gewöhnlichen Zuflucht der von sexueller Neugierde verzehrten Jugend [gewonnen haben]  61.

 

Zudem wird in beiden Texten die Bemühung der Mutter/der Eltern geschildert, das Mädchen aus der Gesellschaft zu entfernen, damit jene ihren sexuellen Triebbefriedigungen frönen können 62. Schließlich durchziehen weitere Motive, wie die immer wiederkehrende Thematik offener/verschlossener Türen im Sinne eines Einbruchs in die Unversehrtheit des Mädchens (nach Freud durch Entjungferung) beide Erzählungen. Fern ab von einer Freud’schen Analyse des Textes Dunkler Frühling als auch einer erschöpfenden Gegenüberstellung beider Texte, soll hier lediglich auf die Präsenz solcher intertextuellen Verweise verwiesen werden. So würde demnach der Tod des Mädchens am Ende der Erzählung die Unmöglichkeit einer weiblichen Entwicklung in einem patriarchal ausgerichteten Bezugsystem anprangern. Indem die Protagonistin die vorgefügten Rollenbilder und kulturell festgeschriebenen Normen übernimmt und auf sich überträgt, geht sie daran zugrunde.

 

Fazit

Wenn auch in allen drei Unterpunkten nur skizzenhaft umrissen, so konnte doch nachgezeichnet werden, dass Dunkler Frühling eine psychoanalytische Fundierung eingeschrieben ist, die selbst aus der aus den Theorien Freuds sich entwickelten heutigen Psychoanalyse noch nachvollziehbar ist. Zeigt die Möglichkeit dieser Lesart als literarische Fallstudie sowie ihre realisierbare Aktualisierung zum einen die noch immer währende Verwurzelung unserer Gesellschaft in Strukturen, die die Bildung eines « autonomen weiblichen Subjekts », um mit Weigel zu sprechen, unmöglich machen, so versinnbildlicht dies zum anderen auch, inwiefern eine literarische Umarbeitung intrapsychischer Vorgänge nicht nur diese, sondern auch die in sie eingeschriebenen gesellschaftlichen Diskurse verdeutlichen kann. Zudem lässt die aufgezeigte immanente Intertextualität in Zürns Werk darauf schließen, dass nicht nur Dunkler Frühling als Pathogenese zu lesen ist, sondern das Werk in seiner Gesamtheit als eine solche betrachtet werden kann, wobei hier die Aufspaltung in verschiedene Prosatexte sowie die verschiedene Herangehensweise und Bearbeitung der einzelnen Motivstränge eine Kritik an der gesellschaftlich konstruierten Idee eines in sich geschlossenen Subjekts untermauern würde 63. Zürns Œuvre lässt sich aufgrund seiner Vielgestaltigkeit und konsequenten Überdeterminierung aus vielerlei Richtungen erschließen; der hier gewählte Ansatz stellt nur eine dieser Möglichkeiten dar und diese auch nur in ihrer Verknappung. Insofern soll er als Anknüpfungspunkt für eine mögliche differenziertere Auseinandersetzung gelesen werden.

 

  1. Franziska Schneider, Unica Zürn. Zu ihrem Leben und ihrem Werk, Unveröffentlichte Lizentiatsarbeit, Zürich 1979, S. 21. Zitiert nach Sigrid Weigel, « ‟Wäre ich ein Mann, hätte ich aus diesem Zustand vielleicht ein Werk geschaffen” : Unica Zürn », S. 243-277, in Inge Stephan, Regula Venske, Sigrid Weigel (Hg.), Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts, Frankfurt am Main, 1987, S.263.
  2. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, Ullstein, Frankfurt am Main/Berlin/Wien, 1985.
  3. Ruth Henry, Die Einzige. Begegnung mit Unica Zürn, Nautilus, Hamburg, 2007.
  4. Sabine Scholl, Unica Zürn : Fehler Fallen Kunst. Zur Wahrnehmung und Re/Produktion bei Unica Zürn, Athenäums Monografien, Literaturwissenschaft 97, Frankfurt am Main, 1990 ; Sigrid Weigel, « Unica Zürn – Verkehrte Mimesis. Angleichung des Lebens an die Kunst », S. 135-153, in Ursula Keller (Ed.), « Nun breche ich in Stücke… » Leben/Schreiben/Suizid, Vorwerk 8, Berlin, 2000, S. 243.
  5. Sigrid Weigel, « Unica Zürn – Verkehrte Mimesis. Angleichung des Lebens an die Kunst », op. cit., S. 247.
  6. Id., S. 243.
  7. Während ein erstes ärztliches Gutachten eine Schizophrenie attestiert, nehmen spätere Gutachten von dieser Diagnose Abstand und attestieren eine bipolare Störung.
  8. Caroline Rupprecht, « The Violence of Merging : Unica Zürn's Writing (on) the Body », Studies in 20th Century Literature, Vol. 27, Iss. 2, 2003, Article 10, https://doi.org/10.4148/2334-4415.1562, S. 376, 389.
  9. Als Beispiel sei hier nur oben genannter Beitrag Eva-Maria Alves‘ zu Zürn aus dem Jahr 2000 zu nennen, in welchem die Verfasserin die Autorin Zürn bar jeglicher kritischer Hinterfragung gleichsetzt mit der jeweiligen Protagonistin derer Texte.
  10. Helga Lutz, Schriftbilder und Bilderschriften. Zum Verhältnis von Text, Zeichnung und Schrift bei Unica Zürn, Metzler, Stuttgart, 2003, S. 25.
  11. Ibid.
  12. Id., S. 9.
  13. Carola Hilmes, « Zeigen und erzählen : Texte, Bilder und wie sie zusammengehören. Überlegungen zu den Arbeiten von Unica Zürn », Arcadia, N. 37, 2002, S. 67-84.
  14. Sigrid Weigel, « Unica Zürn – Verkehrte Mimesis. Angleichung des Lebens an die Kunst », op. cit., S. 137.
  15. Ibid.
  16. Id., S. 249.
  17. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 174.
  18. Sigmund Freud, Das Ich und das Es, S. 235-289, in Sigmund Freud, Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet, Bd. 13, Jenseits des Lustprinzips/Massenpsychologie und Ich-Analyse/ Das Ich und das Es, Fischer, Frankfurt am Main, 1967, S. 258.
  19. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 174.
  20. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », S. 69-115, in Ursula Keller (Ed.), « Nun breche ich in Stücke… ». Leben/Schreiben/Suizid, op. cit..
  21. Id., S. 73.
  22. Sie selbst gibt an, dass trotz eines nachweislich unterschiedlichen Suizidverhaltens bei Männern und Frauen keine einschlägigen wissenschaftlich fundierten Arbeiten zu diesem Thema vorlägen (vergl. hierzu Gerisch 2000 : 70).
  23. Id., S. 73.
  24. Ibid.
  25. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 175, 186.
  26. Bärbel Wardetzki, Weiblicher Narzissmus. Der Hunger nach Anerkennung, Kösel, München, 2015, S. 35.
  27. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 174.
  28. Ibid.
  29. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », op. cit., S. 85.
  30. Id., S. 98.
  31. Id., S. 86.
  32. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 175.
  33. Id., S. 177.
  34. Id., S. 186.
  35. Ein ähnlicher Verweis auf die negative Besetzung der Mutterfigur in Dunkler Frühling findet sich auch bei Rita Morrien. Morrien erkennt in der Erzählung zwar ebenfalls „ einen Mythos der klassischen Psychoanalyse “, weiß dies aber nicht zu vereinbaren mit Zürns restlichem Werk und flüchtet sich sodann im Sinne Kristevas in eine ihrem Argumentationsmuster zuträgliche postfeministische Lesart.
  36. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 176.
  37. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », op. cit., S. 73.
  38. Id., S. 78.
  39. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 173.
  40. Die Figur des Bruders wird hier nicht erwähnt, da sie für die Argumentation hier nicht von Belang ist, und v.a. da es sich bei der Triangulierung um eine Eltern-Kind-Beziehung unabhängig etwaiger Geschwister handelt.
  41. Ibid.
  42. Ibid.
  43. Id., S. 175.
  44. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », op. cit., S. 73.
  45. Ibid.
  46. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 179.
  47. Id., S. 182. Auch hier genießt die Protagonistin jedoch, der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu sein.
  48. Id., S. 179.
  49. Id., S. 173.
  50. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », op. cit., S. 73.
  51. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 193.
  52. Id., S. 200.
  53. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », op. cit., S. 73.
  54. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 199.
  55. Benigna Gerisch, « ‟Denn die Gestalt meiner Sehnsucht ist – weiblich”. Psychoanalytische Hypothesen zur Suizidalität und zum Suizid von Marina Zwetajewa », op. cit., S. 91.
  56. Caroline Rupprecht, « Translator’s Introduction », S. 1-31, in Unica Zürn, Dark Spring, Cambridge, 2000, S. 21.
  57. Id., S. 9.
  58. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 129-138.
  59. Id., S. 132.
  60. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 174.
  61. Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, Frankfurt am Main, 1993 [1905], S. 98.
  62. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 175 ; Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, op. cit., S. 34.
  63. Unica Zürn, Der Mann im Jasmin. Dunkler Frühling, op. cit., S. 18.